Dr. Paula Piechotta, MdB und Valentin Lippmann, MdL

Die Bundestagswahl liegt nunmehr zwei Wochen zurück. Seitdem hat sich die Welt in derart
atemberaubender Geschwindigkeit weitergedreht, dass der Blick auf den Wahlkampf und die Analyse der Bundestagswahl sehr schnell angesichts der akuten Debatten um Sondervermögen und europäische Sicherheit aus dem Fokus geraten ist. Im Nachfolgenden wird daher, anders als von den Autor*innen sonst praktiziert, keine umfassende Analyse des Wahlergebnisses präsentiert, sondern vielmehr eine – im Detailgrad bewusst unterschiedlich ausgeformte – Betrachtung des Wahlergebnisses und der ersten wesentlichen Ansätze für Schlussfolgerungen in Form von sich weiterentwickelnden Thesen vorgelegt.

Die vorliegende Sammlung von Auswertungsansätzen erhebt dabei keinen Anspruch auf
Vollständigkeit und hat vorläufigen Charakter. Sie dient vor allem als Grundlage für eine differenzierte Auswertung der Bundestagswahl 2025 und den notwendigen Strategie-Prozess für 2029.

Die nächsten Jahre werden entscheidend dafür sein, ob die demokratische Mitte auch in
Deutschland unter dem Druck der Unübersichtlichkeit unserer Zeit zerbröselt oder nicht, ob
es wieder Mehrheiten links von schwarz-rot geben kann oder nicht, und ob eine Stabilisierung der Demokratie in Deutschland gelingt oder nicht. Diese Perspektive macht deutlich: Die nächsten vier Jahre müssen von uns dafür genutzt werden, in härteren politischen Zeiten als GRÜNE deutlich robuster und belastbarer zu werden, wenn wir unserer Rolle in der Verteidigung der natürlichen Lebensgrundlagen und des regelbasierten, demokratischen Miteinanders gerecht werden wollen.

01 Vorbemerkung

In einer komplexen Welt- und Politiklage wie selten zuvor, aus der unbeliebtesten Bundesregierung seit 1949 kommend und mit eisigen Temperaturen und Dunkelheit wie in keinem bisherigen Bundestagswahlkampf haben wir BÜNDNISGRÜNE das zweitbeste Ergebnis unserer Geschichte bei einer Bundestagswahl geholt, das aber gleichzeitig niemanden in der Partei zufriedenstellt. Diese Diskrepanz aus objektivem Befund und Gefühlslage der Partei ist auch Ausdruck dessen, dass wir als GRÜNE angesichts der Größe der Aufgaben unserer Zeit das Gefühl haben, dass sich dies auch in unseren Wahlergebnissen spiegelt. Das ist uns in diesem Bundestagswahlkampf offensichtlich nicht gelungen. Die Zeitenwende der globalen Ordnung und Politik gibt auch uns die Aufgabe, vor die Lage zu kommen und die komplexen Szenarien der nächsten Jahre alle vorzudenken, personelle Angebote für unterschiedliche Szenarien aufzubauen und dem eigenen Part bei der Stabilisierung der Demokratie gerecht zu werden. Unsere Aufgabe als Partei ist es nicht nur, geeignete Antworten und funktionierende Strategien im Umgang mit diesen Entwicklungen um unserer selbst willen zu finden – es gilt auch zu verinnerlichen, dass unsere Performance in Wahlkämpfen am Ende entscheidende Auswirkung auf die Zukunft sehr vieler Menschen hat. Deswegen braucht es eine umfassende und tiefgründige Analyse

Wir befinden uns nicht nur mitten im Kampf um eine neue Weltordnung, sondern auch in der nun heißen Phase der globalen Auseinandersetzung von Autokratie versus Demokratie. Wir sehen weltweit, dass Regierungsparteien regelhaft abgewählt werden, weil es für jede Regierung in der aktuellen Weltlage schwierig ist, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Wir sehen ein Erstarken autoritärer und populistischer Politikangebote, die nicht nur Normen des demokratischen Miteinanders immer wieder straflos brechen, sondern auch die mitunter spürbare Überforderung von Wähler*innen in der aktuellen Weltlage nutzen, die diese Politikangebote teilweise als attraktiver und psychologisch entlastend wahrnehmen, obwohl die Umsetzung jener Politik international zu einer weiteren Chaotisierung und Prekarisierung der Lebensverhältnisse führt.

Abschnitt I – Einordnung der Ergebnisse


02 Die Siegerin unter den Verlierern – als einzige Regierungspartei nicht halbiert

Die stete Hoffnung auf einen erneuten GRÜNEN-Höhenflug darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es derzeit keine grundsätzlich guten Gelingensbedingungen für Wahlerfolge von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gibt. Das liegt nicht nur an schwächelnden Themenkonjunkturen im Bereich Umwelt und Klima, sondern auch an strukturellen Umständen. Ende 2024 machte eine faszinierende Zahl die Runde: Nahm man alle weltweiten Wahlen in Demokratien zusammen, so wurden in 80 % von ihnen Regierungsparteien abgewählt oder abgestraft. Der klassische Amtsinhaber-Bonus ist (mit der speziellen Ausnahme ostdeutscher Landtagswahlen) seit den Corona-Jahren zum entscheidenden Amtsinhaber-Malus geworden.

Vor diesem Hintergrund ist ein Blick auf die Ergebnisse der ehemaligen Regierungsparteien aufschlussreich: Die SPD hat sich fast halbiert mit Verlusten von 9,29 % zu 2021 auf 16,4 % bei dieser Wahl und dem damit schlechtesten Ergebnis aller Zeiten, die FDP hat sich mehr als halbiert mit Verlusten von 7,07 % auf nunmehr 4,33 %, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben – trotz Beteiligung an der Ampelkoalition – lediglich 3,09% verloren und erhielten 11,6 % der Stimmen. Das ist nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Vergleich bemerkenswert: Hier waren beispielsweise zuletzt die österreichischen GRÜNEN von 14% auf 8,2% gefallen.

Wir BÜNDNISGRÜNE haben somit von den Ampel-Parteien bei der Bundestagswahl am wenigsten verloren. Dieser Befund soll das Ergebnis nicht rechtfertigen, aber er verdeutlicht in der Zusammenschau der Ergebnisse noch einmal, WIE unbeliebt die Ampel-Regierung war und dass auch wir in der Anlage unseres Wahlkampfes diesen Fakt gegebenenfalls noch stärker in die Überlegungen hätten einbeziehen müssen.

Der vergleichsweise differenzierte eigene Blick auf die Ampel-Regierung im Herbst 2024 war
natürlich auch dadurch bedingt, dass die Wähler*innen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bis zuletzt die höchsten Zufriedenheitswerte mit der Ampel aufwiesen und so vergleichsweise wenig für Performance und Ende der Ampel-Regierung abstrafen wollten. Dabei war dieser Druck jedoch regional sehr unterschiedlich ausgeprägt und zum Beispiel in NRW stärker als in Sachsen spürbar. Insgesamt wird auch an diesem Punkt deutlich, dass die regional sehr unterschiedlichen Stimmungslagen im Land von GRÜNEN- und Nicht-GRÜNEN-Wähler*innen in der Wahlkampfplanung und -umsetzung zu wenig berücksichtigt wurden.

03 Die CDU ist die klare Verliererin unter den Siegern

Die CDU ist die klare Verliererin unter jenen Parteien, die Stimmzuwächse erreichen konnten.
Gemessen an der Performance der Ampel und mit Blick auf die den Wahlkampf dominierenden Themen, welche klassisch den eher konservativen Parteien in die Hände spielen, hätte die CDU ein Ergebnis deutlich über 35 % einfahren müssen. Die erneuten massiven Verluste in den ostdeutschen Ländern sind zudem Indikator dafür, dass es mit der Themensetzung der CDU nicht gelungen ist, die AfD kleinzuhalten. Vielmehr dürfte die Themenstrategie der CDU, statt maßgeblich auf Wirtschaftspolitik nahezu ausschließlich auf Migration als Themenschwerpunkt zu setzen, der AfD insbesondere in Ostdeutschland ein Konjunkturprogramm beschert haben.

Zugleich startete Friedrich Merz auch ein Konjunkturprogramm für DIE LINKE, die in dieser
Situation als einzige Partei klar für sich in Anspruch nahm, dass eine Stimme für sie definitiv
keine Stimme für eine Koalition mit Merz sein würde. Voraussetzung dafür war, dass die Linkspartei wenige Tage zuvor in der ersten relevanten Umfrage die Fünf-Prozent-Hürde genommen hatte – mutmaßlich auch aufgrund zurückkehrender BSW-Wähler*innen. In der Konsequenz hat Friedrich Merz in einer einzigen Woche den Parteien ohne Regierungsaussichten (AfD und Linkspartei) mindestens 5 % zusätzliche Wähler*innen bescherten und damit die Korridore für Mehrheits-Regierungsbildungen selbst weiter eingeschränkt. Dieses Vorgehen erinnert in Teilen an Michael Kretschmer im sächsischen Landtagswahlkampf 2024.

04 GRÜNES Potential erweitert, aber Prozente verloren.

Man kann den Bundestagswahlkampf 2025 nicht begreifen, ohne die Art und Weise, wie sich
in den Ampel-Jahren die GRÜNEN Umfragewerte und das GRÜNE-Wähler*innenpotential über weite Strecken der Koalition nach unten entwickelt haben. Das weite GRÜNE-Potential beispielsweise befand sich 2021 teilweise bei 50 %, es sank im Verlauf der Regierungszeit auf unter 30 %. Hier konnten wir tatsächlich ab Sommer 2024 wieder Boden gut machen, der Anteil der Wähler*innen, die eine Wahlentscheidung für die BÜNDNISGRÜNEN nicht in Bausch und Bogen ablehnten, war wieder angestiegen auf höhere 30er-Werte. Dies hatte nicht nur theoretische Implikationen, sondern führte auch zu subjektiv wahrgenommenen abnehmenden Beschimpfungen und Aggressionen gegenüber GRÜNEN Wahlkämpfer*innen in Ostdeutschland.

Gleichwohl lag das Potential damit immer noch weit unter dem der vorherigen Bundestagswahl. Somit blieb ein Ausgreifen in neue Wählergruppen weiter schwierig. Der Bundestagswahlkampf krankte also unter anderem an dem Effekt, dass seit Sommer 2024 das Potential zwar Stück für Stück wieder vergrößert werden konnte, die Zeit bis zur vorgezogenen Neuwahl jedoch zu kurz war, um hier an die Werte – und damit auch die Prozentwerte – von 2021 anschließen und das sich weitende Potential auch in steigende Prozentwerte übersetzen zu können.

Ob diese Potentialzuwächse schlussendlich durch das Ende der Ampel, die ersten Wahlkampfwochen oder aber die klare Entscheidung für Robert Habeck als Spitzenkandidaten bedingt waren, ist indes nicht bekannt. Sie bieten aber die Chance gerade in der anstehenden Oppositionszeit mehr Wähler*innen für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewinnen zu können.

05 Handwerkliche Fehler in Regierungszeiten ließen Wähler*innenpotential einsacken

Es gab in den drei Regierungsjahren auf GRÜNER Seite sowohl handwerkliche als auch zahlreiche kommunikative Fehler. Es ist bereits oft beschreiben worden, dass die großen GRÜNEN Erfolge in Klima-, Umwelt-, Verkehrs-, Sozial-, Gesundheitspolitik etc., die tiefgreifenden Modernisierungen in gesellschaftspolitischer Fragen und der Aufbruch aus 16 Jahren Stillstand nicht ausreichend kommuniziert wurden. Es standen nicht ausreichend kommunikative Ressourcen bereit und die Kommunikation war zu wenig schlagkräftig, um GRÜNE Regierungserfolgen eine ausreichende Sichtbarkeit zu geben. Das war die Grundlage dafür, dass die GRÜNE Regierungsbeteiligung von rechts als vermeintlich wohlstandsvernichtend und von links als vermeintlich unsozial angegriffen werden konnte. Es reicht nicht, Gutes zu tun, man muss auch dafür sorgen, dass das Gute gesehen wird: Diesen Grundsatz haben wir
GRÜNE in den vergangenen drei Jahren zu wenig berücksichtigt.

Gleichzeitig wurde in den drei Regierungsjahren und auch im Wahlkampf wieder eine der
größten Schwächen der BÜNDNISGRÜNEN deutlich: Ihre mangelnde Fähigkeit, eine eigene
Erzählung gegen politische Angriffe relevant zu verteidigen. Die zeigt sich vor allem an den
folgenden drei Punkten des Regierungshandelns:

Angesichts der Fülle an verabschiedeten Gesetzen schmerzte eines, das am Ende nicht kam,
ganz besonders: die Kindergrundsicherung. Dieses angedachte sozialpolitische Leuchtturm-Projekt der GRÜNEN scheiterte an seiner großen Komplexität, an seinen großen Finanzbedarfen und auch daran, dass die Koalitionspartner*innen kein Interesse daran hatten, einer GRÜNEN Partei sozialpolitische Kompetenz zuzugestehen. Als zentrales sozialpolitisches Versprechen hätte es, wenn es eingelöst worden wäre, potentiell multiple Flanken nach links auch im Wahlkampf schließen und Angriffe auf die sozialpolitische Glaubwürdigkeit der GRÜNEN ins Leere laufen lassen können. Für künftige Regierungsbeteiligungen muss deswegen klar sein: Zentrale sozialpolitische Versprechen, für die man die ressortbedingte Zuständigkeit hat, müssen auch umgesetzt werden und ihre handwerkliche und haushälterische Umsetzbarkeit müssen weit vor dem Beginn des Wahlkampfs abgesichert sein.

Das zweite große Regierungsprojekt, das mehr Negativ- als Positivschlagzeilen nach sich
zog, war zweifellos das Gebäudeenergiegesetz. Hier lagen die Problemlagen etwas anders:
Insbesondere das frühe Durchstechen eines unfertigen Gesetzentwurfs durch den Koalitionspartner und die anschließend insuffiziente Krisenkommunikation führten hier zu enormen Verhetzungen im bürgerlichen Lager, die zum Gegenstand einer anti-GRÜNEN-Verhetzungskampagne wurden, welche natürlich auch vor dem Hintergrund für den politischen Gegner*innen attraktiv war, dass hier die persönlichen Beliebtheitswerte eines wahrscheinlichen Spitzenkandidaten gleich mit reduziert werden konnten.

Als dritter entscheidender Punkt ist die Gesamt-Kommunikation der Regierungskoalition zu
nennen, die neben der hohen, nicht ausreichend erklärten Taktzahl an Entscheidungen zu
einer signifikanten Verschlechterung der gesellschaftlichen Stimmung beigetragen hat.
Diese Gesamt-Kommunikation haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht allein verantwortet.
Erinnert sei nur daran, dass bereits die vorherige Bundesregierung mit FDP-Beteiligung eine
war, von der vor allem die gegenseitige Betitelung als „Wildsäue und Gurkentruppen“ in Erinnerung blieben. Den destruktiven Elementen der Bundesregierung hatten wir zu wenig entgegenzusetzen, ebenso wenig wie jenen Teilen in der Bundesregierung, die vor allem daraufsetzten, dass sich Koalitionspartner*innen gegeneinander ausspielen lassen in der vergeblichen Hoffnung darauf, Vorteile in kommenden Wahlkämpfen zu erhalten. Die Kommunikation einer Gesamt-Koalition hat man als einziger Partner nicht in der Hand, aber man hat die eigene Kommunikation in der Hand. Diese Erkenntnis wurde zum Ende der Koalition hin immer klarer und auch zunehmend erfolgreich umgesetzt: Dieses Lernen war eine der Ursachen dafür, dass man als einziger Koalitionspartner zur Bundestagswahl nicht halbiert wurde
und auch die öffentlichen Schuldzuweisungen für das Ende der Regierungskoalition mehrheitlich einem anderen Koalitionspartner zugeschrieben wurde.

Im Rückblick auf die gesamte Ampel-Regierungszeit wird aber deutlich: Eine gute Regierungs-Performance ist kein Entweder/Oder zwischen „Unsere Wähler*innen wollen uns mehr kämpfen sehen“ und „Kompromissfähigkeit ist ein Wert an sich“. Vielmehr wollen Wählerinnen eine klare Handschrift ihrer bevorzugten Partei in Regierungsverantwortung sehen und vor allem aber sich darauf verlassen können, dass sie an den meisten Tagen nicht mit multiplen Streitigkeiten der Bundesregierung behelligt werden und Konflikte intern gelöst werden. Alles andere stärkt nur Parteien, die keine Regierungsbeteiligung in Aussicht haben (wollen).

06 Die viel beschworene Merkel-Lücke wurde bereits in Regierungszeiten verloren.

Die in diesem Wahlkampf vielfach von BÜNDNISGRÜNER Seite als strategisch bedeutende Zielgruppe ausgemachte „Merkel-Lücke“ konnte in diesem Wahlkampf kaum noch erreicht werden, da sie bereits in der Regierungszeit wieder verloren wurde. Viele der Wähler*innen, die 2019 von der CDU zu den GRÜNEN gingen, stellten exakt jenes Potenzial dar, welches nun von der Union vermeintlich zurückgewonnen werden sollte. Dieses Potenzial war aber bereits aufgrund des, mit den massiven handwerklichen Fehlern in Regierungszeiten verbundene, Vertrauensverlustes in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in einer derart kurzen Zeit zwischen Ampel-Ende und Wahltermin nicht mehr für uns erreichbar.

07 Wir haben in der entscheidenden Wahlkampfphase im Januar unser eigenes Momentum gebrochen.

Die Bundestagswahl wurde im Januar verloren. Gerade in dieser sensiblen Phase – ab sechs Wochen vor der Wahl – haben wir mehrfach unser eigenes Momentum gebrochen. In der Folge konnte im Februar auch der aufkommende strategische Vorteil aus der Merz-AfD-Abstimmung nicht genutzt werden, da zu diesem Zeitpunkt die Erzählung „Mit einer Stimme für GRÜN Friedrich Merz verhindern“ nicht mehr glaubwürdig funktionierte.

Nach einem professionellen und fulminanten Auftakt in den Wahlkampf Ende 2024 war der Januar geprägt von mehreren echten oder vermeintlichen Skandalen sowie strukturellen Problemen, die enorme Ressourcen nach innen in Anspruch nahmen und gleichzeitig durch negative Presseberichterstattung mehrfach das Momentum brachen. Dies trifft sowohl die Kommunikation im Zusammenhang mit dem Fall Shirin K., die Debatte um die Sozialversicherungsbeiträge für die GKV und den Umgang mit den aufwendigen Änderungsantragsverhandlungen zur Programm-BDK.

Was diese sehr unterschiedlichen Vorgänge eint: Sie fanden im Januar statt. Sie banden enorme Kräfte in der Partei, die für die Wahlkampfarbeit nach außen fehlten. Überspitzt kann man formulieren: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war im Januar 2025 mit vielem beschäftigt, aber nicht mit Wahlkampf.

Sowohl die GKV-Debatte als auch der Fall Shirin K. verlangten nach schnellen Entscheidungen und schneller Krisenkommunikation. Hier zeigte sich einmal mehr, warum GRÜNE in Wahlkampfsituationen sich so oft schwer tun, einmal gemachte Fehler schnell aus der Welt auszuräumen oder aber bei Angriffen diese erfolgreich abzuwehren: Die vielköpfigen Entscheidungsstrukturen, die uns außerhalb von Wahlkämpfen breitere und besser durchdachte Entscheidungen ermöglichen, haben sich nun wirklich abschließend als zu schwerfällig und zu langsam erwiesen, um in Wahlkämpfen eine wirksame und vor allem schnelle Krisenkommunikation zu ermöglichen.

Eine Lehre muss aus diesem Grund sein, dass in Wahlkampfsituationen entweder vollständig externe Krisenkommunikationsstrukturen die gesamte Krisenkommunikation übernehmen müssen oder aber entsprechende Parteigremien sehr viel schlanker aufgestellt sein müssen als heute.

Außerdem fand im Januar noch der Verhandlungsprozess für weit mehr als 1.000 Änderungsanträge für das Wahlprogramm statt, in die nicht nur die gesamte Bundesgeschäftsstelle, sondern auch alle Funktionär*innen und nahezu auch alle Kandidierenden der Parteien über mindestens eineinhalb Wochen intensiv eingebunden waren – Zeit, in denen nur mit wenig Kraft nach außen kommuniziert werden konnte und Zeit, in der nur mit wenig Kraft Wahlkampf stattfinden konnte. Dass schlussendlich über 1.000 Änderungsanträge gestellt wurden, obwohl aufgrund der verkürzten Wahlkampfzeit mehrfach auf den hohen Energieaufwand zur Bearbeitung hingewiesen wurde, zeigt, dass Wahlprogrammprozesse zeitlich noch weiter vor den entscheidenden Wahlkampfphasen stattfinden müssen oder aber die Art und Weise, wie Änderungsanträge verhandelt werden, deutlich anders aufgegleist werden muss.

08 Ostdeutsche Bundesländer zeigen: Wir haben seit Herbst schon wieder dazugewonnen.

Die Ergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern sind durchweg besser als noch bei den sechs Monate zurückliegenden Landtagswahlen 2024 (Thüringen plus 1 %; Brandenburg plus 2,5 %, Sachsen plus 1,4 %). Gleichzeitig sind die den jeweiligen Ministerpräsidenten stellenden Parteien im Vergleich zum Herbst deutlich abgesackt. Dies verdeutlicht zum einen nochmal den taktischen Wahleffekt bei den vorherigen Landtagswahlen und belegt zugleich, dass die GRÜNEN sich auch im Osten wieder gefangen haben und die befürchteten überproportionalen Verluste bei der Bundestagswahl gegenüber den westdeutschen Bundesländern weitgehend ausgeblieben sind. Zugleich könnten diese Zahlen ein weiterer Hinweis darauf sein, dass die Performance der Ampel zu erheblichen Teilen die GRÜNEN-Landtagswahlergebnisse im Herbst 2024 bedingte.

09 Die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Ländern zeigen die elektorale Realität.

Die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Ländern, insbesondere in Sachsen, spiegeln derweil die derzeitige unverzerrte Realität der politischen Stimmung und Gesamtlage wider. Sie zeigen damit vor allem, dass die CDU ohne Kandidatenbonus und vor allem ohne massives taktisch induziertes Wahlverhalten in Sachsen nicht einmal mehr über die 20 % kommt. Dies belegt rückblickend, dass die stabilen Wahlergebnisse der Sachsen-CDU 2024 – wenn überhaupt – nur zu Teilen der eigenen Performance zuzuschreiben waren.

Abschnitt II – Erkenntnisse über den Wahlkampf


10 Wir haben nicht primär ein Problem der Inhalte, sondern weiterhin ein Problem der
Performance.

Unsere Inhalte werden von einem erheblichen Teil der Wähler*innen als wahlentscheidend betrachtet, zugleich aber nicht mit uns elektoral verknüpft. Das Wahlergebnis 2021 speiste sich maßgeblich aus einer starken Bindungswirkung der GRÜNEN Erzählung über verschiedene Milieus und Altersgruppen hinweg. Es ist uns im Wahlkampf 2025 zu wenig gelungen, die verschiedenen Milieus mit einer sie mobilisierenden Gesamterzählung zu adressieren

Der Verlust von Wähler*innen auf den letzten Metern des Wahlkampfs war erneut dramatisch und eindrucksvoll, aber er war kleiner als die Potenzialverluste, die wir als GRÜNE insgesamt seit 2021 hinzunehmen hatten. Wir hatten Erbschaftssteuer, Milliardärssteuer, Mietenstopp und Klimageld im Wahlprogramm stehen; Es wurde mit uns aber im Wahlkampf nicht ausreichend verbunden.

Derzeit wird in diesem Zusammenhang viel über das Problem der Formelkompromisse geschrieben und diskutiert. Und es stimmt: Wir sind in die Bundesregierung 2021 gestartet mit einem programmatischen Fundament, das auf dem Sand von hunderten Formelkompromissen gebaut war, sodass viele Konflikte erst in Regierungszeiten zum ersten Mal in der Sache ausgetragen werden mussten. Diese vermeintliche Schwäche zahlreicher Formelkompromisse kann dabei aber nicht ohne die große Erkenntnis der Regierungsjahre 2021 bis 2024 betrachtet werden: Die Determiniertheit des Ampel-Koalitionsvertrags mit seiner Fülle an abzuarbeitenden Spiegelstrichen trug am Ende wesentlich zum Scheitern dieser Regierung
bei, die angesichts einer unter der Legislatur komplett veränderten Welt- und Haushaltslage
als erste Nicht-CDU-geführten Regierung seit 2005 die Grundlage ihrer vereinbarten Zusammenarbeit verlor und angesichts der geopolitischen Umbrüche nicht zu einer gemeinsamen neuen Grundlage der Zusammenarbeit fand. Vor diesem Hintergrund gilt seit 2022 und wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch für die nächsten Jahre gelten: Extrem energieaufwendige, detaillierte Positionsfindungen von Parteien zu Detailfragen haben in diesen Zeiten der kumulierten globalen Umbrüche eine kurze Halbwertszeit und die Zahl der von Parteien zu diskutierenden akuten politischen Fragen sind jeweils so groß, dass überdeterminierte Programmfestlegungen schlicht nicht den Anforderungen an Politik in Zeiten globaler Umbrüche genügen wird. Vor diesem Hintergrund braucht es ggf. eine gemeinsame Verständigung darauf, dass nicht jeder Konflikt mit einem Formelkompromiss suffizient bearbeitet ist – aber eben auch, dass nicht jeder Konflikt angesichts der hyperdynamischen
Weltlage ausgetragen und zielführend bearbeitet werden kann: In Zeiten, in denen sich die
globale Weltordnung, die Frage von Krieg und Frieden und Handelsbeziehungen jeden Tag
potentiell neu entscheiden, wird es regelmäßiger der Fall sein, dass Politik teilweise innerhalb
von 24 Stunden jahrzehntealte Positionen räumen muss.

11 Was uns außerhalb von Wahlkämpfen stark macht, schwächt uns in Wahlkämpfen:
Aufwendige Entscheidungsstrukturen.

Die vielköpfigen Entscheidungsstrukturen, die uns außerhalb von Wahlkämpfen breitere, besser durchdachte Entscheidungen ermöglichen, führen regelhaft in allen Wahlkämpfen auf allen Ebenen zu unzureichender Krisenkommunikation und mangelnder Verteidigungsfähigkeit bei Angriffen der politischen Gegner*innen von allen Seiten (Siehe auch “07 Wir haben in der entscheidenden Wahlkampfphase im Januar unser eigenes Momentum gebrochen.”).

Eine Lehre muss aus diesem Grund sein, dass in Wahlkampfsituationen auf allen Ebenen keine vielköpfigen Runden für zeitkritische oder allgemeine taktische Entscheidungen Prozesse aufhalten dürfen, wenn wir als GRÜNE endlich aus dem Muster ausbrechen wollen, in Wahlkämpfen auch Defensiv-Situationen professionell zu meistern und nicht länger regelhaft am Ende von Wahlkämpfen einzubrechen. Gleichzeitig müssen die Abstimmungsprozesse aber regionale Unterschiede der Wähler*innen-Milieus stärker in den Blick nehmen.
Zusammenfassend bleibt zu sagen: Viel-Kopf-Runden haben ihre Berechtigung und ihre Vorteile, aber nicht in Krisen und akuter Wahlkampfkommunikation.

12 Spitzenkandidat*innen sind nicht alles, aber ohne sie ist vieles nichts.

In politisch zunehmend unübersichtlichen Zeiten werden Spitzenkandidierende auch in klassischen Parteiendemokratien wie Deutschland wichtiger, da sich über Personen Werte, Haltungen und Stile einfacher und nonverbaler ausdrücken lassen. Die Kandidatenfaktoren für Robert Habeck waren in der BÜNDNISGRÜNEN Wahlkampfgeschichte fast beispiellos, er lag im gesamten Wahlkampf nicht nur fast immer gleichauf mit Merz, sondern auch deutlich vor Olaf Scholz. Gleichzeitig war die Hoffnung, dass allein diese Spitzenkandidatur im überproportionalen Maße eine Bindungswirkung in vielen unterschiedlichen Milieus entfaltet, mit den realen Gründen und Motivationen vieler Wähler*innen bei ihrer Wahlentscheidung nicht im erwünschten Maße in Einklang zu bringen. Die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN konnte im gesamten Wahlkampf nicht zu den Werten des Spitzenkandidaten aufschließen. Da nur für 25 % der Wähler*innen insbesondere die Spitzenkandidat*innen entscheidend für ihre Wahlentscheidung waren, liegt hier ein weiterer Grund für das Wahlergebnis. Gleichzeitig dürfte es mit einem weniger beliebten Spitzenkandidaten noch schlechter ausgefallen sein.

13 Die politische Selbstverortung der Direktkandidat*innen war für den Wahlerfolg nicht
relevant.

Die innerparteiliche Selbstverortung der BÜNDNISGRÜNEN Direktkandidat*innen hat nur geringe Auswirkungen auf mögliche Korrekturen der großen Trends und Wählerwanderungen der Bundestagswahl. Selbst sich sehr links verortende Kandidatinnen, wie in Friedrichshain-Kreuzberg, haben vermeintlich sichere Wahlkreise mit stark ausgeprägtem Wechselwahlverhalten zur LINKEN und einem gezielten Targeting durch die Linkspartei verloren, mittige Kandidierende haben in anderen Wahlkreisen – ohne Linkspartei-Erststimmenkampagne – überraschenderweise gewonnen. Es wird deutlich: Die bundesweiten Stimmungslagen und die lokal konzentrierten Gegenkampagnen der politischen Gegner*innen waren im
Vergleich zu vorherigen Wahlkämpfen nochmal um ein Vielfaches entscheidender als der eigene örtliche Wahlkampf.

14 Strukturelle Probleme der Bundesgeschäftsstelle wurden in Teilen im Vergleich zu 2021 behoben, es gibt aber weiter viel zu tun.

Die Auswertung des Wahlkampfes 2021 zeigte deutliche Probleme in der Steuerung durch die Bundesgeschäftsstelle. Die damaligen Strukturen waren für das Ziel, die Bundestagswahl zu gewinnen, komplett ungeeignet. Diese grundsätzlichen strukturellen Missstände wurden für die Bundestagswahlkampagne 2025 behoben, was sich beispielsweise an der mustergültigen Handhabe der Plagiatsvorwürfe gegen Robert Habeck gezeigt hat. Insgesamt wurde zudem ein stärker datengetriebener Wahlkampf durchgeführt, das Fundraising wurde deutlich ausgebaut und das digitale Kampagnenkonzept war ausgereifter als 2021.

Zugleich erweckte die operative Steuerung der Wahlkampagne immer wieder den Eindruck,
dass die realen Strukturen – gegebenenfalls auch aufgrund der verkürzten Zeit zur Wahlkampfplanung – offenkundig an ihre Grenzen kamen. Dies gilt vor allem für die nach wie vor unterentwickelte Fähigkeit auf dynamische Lagen zu reagieren und auch in den letzten Wahlkampfwochen noch ausreichend Energie für einen bis zum Ende durchgetragenen Wahlkampf aufbringen zu können. So gelang es auch deswegen nur teilweise erfolgreich auf die AfD-Merz-Abstimmung zu reagieren, da Teile der Schlussmobilisierung bereits unverändert angelaufen waren – das gilt jedoch nicht für die wichtigen Schluss-Kommunikationslinien wie „Wort statt Wortbruch“, die allerdings nur zu Teilen die notwendige Durchdringungstiefe in der Wähler*innenschaft erreichte. Zugleich erweckte der Umgang mit dem 10-Punkte-Plan zur Sicherheits- und Migrationspolitik den Eindruck chaotischer Abstimmungs- und Entscheidungsstrukturen in der Bundespartei, der in den ersten Wahlkampfwochen schwer vorstellbar gewesen wäre.

Für die kommenden Jahre, in denen aufgrund der generellen politischen Unsicherheit jederzeit ein Bundestagswahlkampf oder ein schwieriger Landtagswahlkampf vor der Tür stehen kann, braucht es zwingend eine Bundesgeschäftsstelle, die grundsätzlich ein Kern-Kampagnen-Office kontinuierlich als Teil ihrer Strukturen bereithält, welches Kampagnen auch zwischen Wahlen implementiert und vor allem auch in Landtagswahlkämpfen strategisch und taktisch vor Ort in akute Lagen hineingehen und diese professionell mitsteuern kann. Dies kann auch dazu beitragen, dass die Verzahnung von Wahlkampfstrukturen und anderweitigen Strukturen der Bundesgeschäftsstelle in Wahlkampfzeiten organischer verlaufen kann.

15 Zu wenig flexibel bei dynamischen Lagen: Die SCHMerz-Woche und ihre taktischen Fehler.

Monatelang warteten alle politischen Beobachter und vor allem auch die Strateg*innen der SPD auf den einen großen Fehler des Friedrich Merz. Als Friedrich Merz nach dem schrecklichen Tag von Aschaffenburg anders als nach dem Anschlag in Magdeburg forderte, dass nun auch Abstimmungen mit der AfD möglich sein müssten, sahen viele Beobachter*innen diesen Moment als gekommen. Die Effekte dieser Woche wurden zu Beginn von SPD und GRÜNEN falsch eingeschätzt: Wir gingen in allen Teilen der Partei davon aus, dass der Tabubruch von Friedrich Merz dazu führen würde, dass damit unzufriedene Wähler*innen der CDU/CSU zu SPD und/oder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wechseln würden und die AfD erneut Wähler*innen dazugewinnen würde. Diese Wählerbewegungen gab es mit hoher Wahrscheinlichkeit, sie waren am Ende aber deutlich kleiner als angenommen – lassen sich zumindest aber nicht in den Netto-Wählerbewegungen nachweisen.

An dieser Stelle wird deutlich, wie stark das gebrochene Momentum im Januar die Grundlage für die negativen Konsequenzen der Merz-Woche legte: Hätte in dieser Situation noch ein relevanter Teil der Wähler*innen daran geglaubt, dass Olaf Scholz oder Robert Habeck tatsächlich Friedrich Merz als Kanzler verhindern können, wäre das Momentum hin zu SPD oder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier nicht zu stoppen gewesen. Stattdessen erschien die einzig mögliche Option, den Protest gegen Merz über Stimmen für die Linkspartei auszudrücken, auch wenn man insbesondere deren außenpolitische Positionen nicht mittrug.

Es ist daher eine lohnende Debatte, vor diesem Hintergrund darüber zu sprechen, ob man sich in dieser Woche klarer hätte dazu bekennen müssen, auf keinen Fall einen Kanzler Merz zu wählen oder andere Wege hätte aufzeigen müssen, wie Protest gegen die gemeinsame Abstimmung von AfD und CDU/CSU elektoral so hätte ausgedrückt werden können, dass am Ende mehr und nicht weniger progressive Regierungspolitik steht. Gleichwohl ist auch klar, dass gerade in diesen Tagen die Ereignisse im benachbarten Österreich mit einem Scheitern der Koalitionsgespräche zwischen demokratischen Parteien und der erst dadurch drohenden FPÖ-Kanzlerschaft hier die Befürchtungen groß waren, mit einer zu starken Abgrenzung von der Union, der AfD die Türen zu einer Regierungsbeteiligung bzw. Minderheitsregierungs-Tolerierung erst recht weit zu öffnen. Klar ist hingegen schon heute: Der 10-Punkte-Plan hat in dieser Situation keinen positiven Beitrag leisten können. Er hat vielmehr zu weiteren internem Streit beigetragen. Inwiefern er jedoch für den Erfolg der Linkspartei entscheidend war, deren Momentum bereits eineinhalb Wochen vorher gestartet war und dem –wie bereits ausgeführt – zahlreiche andere Faktoren den Boden bereiteten, bleibt weiter Gegenstand der Diskussion.

16 GRÜNE sind weiterhin zu schlecht darin, sich gegen Angriffe zu verteidigen.

Wir haben einen Wahlkampf erlebt, der maßgeblich nicht entlang von Inhalten, sondern durch die Zuschreibung von Feindbildern geprägt wurde. Erhebliche Teile der Wahlkampfstrategien der Union basierten offenkundig auf dem Grundsatz „It’s the enemy, stupid“. Hiergegen haben wir uns erneut zu wenig zur Wehr gesetzt, wenngleich auch besser als in der Vergangenheit. Nach wie vor unterschätzen wir jedoch die Wirkung pejorativer Erzählungen und – selbst billigster –Unterstellungen, in der falschen Annahme, dass diese nicht verfangen würden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Erzählung emotional auf ein klassisches Anti-GRÜN-Narrativ einzahlt, egal ob sie aus den Reihen der CDU oder aus den Reihen der LINKEN kommt.

Als Lehre aus den Ampel-Regierungsjahren bleibt hierbei: Es geht nicht um „kämpfen“ oder „nicht kämpfen“. Es geht auch darum, professionell und geräuscharm zu regieren, regierungsintern geschlossen und mit großer Härte die eigenen Ziele durchzusetzen und sie anschließend intensiv und wirkmächtig zu kommunizieren. Es geht außerdem darum, sich sowohl zwischen und erst recht auch in Wahlkämpfen endlich besser verteidigen zu können: Bei allen politischen Konkurrent*innen hat sich herumgesprochen, dass Teile der GRÜNEN-Wählenden weiterhin ein sehr volatiles Wahlverhalten an den Tag legen. Es ist somit keine Überraschung, dass die Linkspartei ihre Strategie komplett auf das Gewinnen von städtischen GRÜNEN-Wähler*innen eingestellt hat, statt auf das Rückgewinnen von BSW-Wähler*innen. Es ist schlicht und ergreifend derzeit der einfachere Weg. Umgekehrt ist es auch kein Wunder, dass trotz einer gemeinsamen Abstimmung mit der AfD, CDU-Wähler*innen von den GRÜNEN zurück zur Union gingen: Die Verhetzungskampagnen rund um das Heizungsgesetz und Wirtschaftswachstum wurden von uns zu schlecht verteidigt.

Der Ausbau und die Professionalisierung der Verteidigungsfähigkeit der Partei ist vielleicht das entscheidende parteiinterne Projekt für die nächsten Jahre. Dazu gehören die begonnenen professionalisierten Beobachtungen der Debattenräume, ein klares, auch zwischen Wahlkämpfen existierendes Reaktions-Team und ein gemeinsames Verständnis aller Mitglieder in der gesamten BÜNDNISGRÜNEN Partei, dass Verteidigung der eigenen Positionen zwingend für den politischen Erfolg einer Partei ist und sie damit nicht nur von möglichst allen unterstützt werden muss, sondern auch von möglichst vielen mitgetragen werden muss.

17 Verlust der Fähigkeit zielgruppengenaue Wahlkämpfe zu führen

Ein Teil der Zugewinne der Linkspartei in der Zielgruppe der unter 25-Jährigen dürfte auch
der Grundtonalität der Wahlkampagne geschuldet sein. Diese war von vornherein nicht konzipiert, in die Zielgruppe junger Menschen zu wirken. Da gleichzeitig das 2021 stark mobilisierende Thema Klimaschutz an Bedeutung – auch in der jungen Zielgruppe – verloren hat, konnte dieser Ausrichtung der Kampagne auch nicht durch eine thematische Bündelung und Zuspitzung entgegengetreten werden. Das Ergebnis zeigt sich darin, dass sich unsere starken Wahlergebnisse immer mehr in die höheren Altersgruppen verlagern – was mittelfristig auch Vorteile hat, da hier größere Wähleranteile verortet sind. An der Notwendigkeit, zielgruppenspezifische Wahlkämpfe führen zu können, ändert sich dadurch aber nichts

Wenn man sich hierbei anschaut, wie eingeschränkt gut GRÜNE Inhalte im Verhältnis vor allem von GRÜNEN Mitgliedern geteilt werden, wie gut die Kommunikation von der Bundesebene bis zur kleinen Kommunalfraktion läuft, dann ist hier im Vergleich zu den politischen Mitbewerber*innen für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch viel Luft nach oben: Wir sind und bleiben am Ende eine Partei, die sich mit dem durchleiten von Inhalten und Messages schwertut. In Wahlkampfzeiten fällt immer sehr stark auf, dass uns die meisten anderen größeren Parteien in der gemeinsamen Aussteuerung zentraler Inhalte oft überlegen sind. Der Wahlkampf 2025 brachte hier eine deutliche Weiterentwicklung zum Positiven in der GRÜNEN Partei. Diese Entwicklung muss jetzt jedoch weitergeführt werden: In Zeiten, die politisch härter werden, müssen wir GRÜNE organisatorisch gestählter und belastbarer werden. Wir brauchen auch zwischen den Wahlkämpfen kontinuierlich tagende, jederzeit aktivierbare Kampagnen- und Organisationseinheiten auf den verschiedenen Ebenen der Partei, in denen die zentralen Akteur*innen von Kampagnenorganisation, nämlich Parteivorstände, Organisatorinnen, strategische Teams und Multiplikatorinnen zusammengeführt werden. Das erleichtert nicht nur in Situationen plötzlich vorgezogener Neuwahlen die Wahlkampforganisation, sondern wird in politisierteren Zeiten auch der Anforderungen gerecht, dass Wahlkämpfe immer materialintensiver und personalintensiver geführt werden und jede Partei
eine große Zahl kampagnenerfahrener Mitglieder benötigt.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass wir eine spezifische ostdeutsche Zielgruppenstrategie erarbeiten. Die Zugewinne von nicht-klassische BÜNDNISGRÜNEN Milieus war hier 2021 eine Grundlage für das verhältnismäßig gute Abschneiden der ostdeutschen Landesverbände. Die jüngste Bundestagswahl hat nun gezeigt, wie schnellt die Wähler*innen aus Milieus sich auch wieder von den GRÜNEN abwenden. Gleichzeitig gilt es hier aber auch, sich besser der eigenen Stärken bewusst zu sein: Unsere Programmatik, unser Personal, unsere Ehrlichkeit sind immer noch einer der vielen Punkte, die Wähler*innen bei uns positiv verbuchen, wir stellen sie in Wahlkämpfen jedoch nur bedingt heraus und vor allem suchen wir zu wenig den Kontrast zu den entsprechenden Defiziten bei anderen Parteien.

18 Die starke Mobilisierung der eigenen Basis war beispiellos und muss in allen zukünftigen Wahlkämpfen mindestens so stark ausfallen wie hier.

Einer der großen Erfolge dieses Wahlkampfs, der dazu beigetragen hat, dass das Ergebnis trotz der schwierigen Gesamtsituation und der eigenen Fehler trotzdem zweistellig wurde, war die enorme Mitgliedermobilisierung, die auch durch die vielen neuen Mitglieder für das #TeamRobert gelingen konnte – und insbesondere in ostdeutschen Landesverbänden, die zu diesem Zeitpunkt bereits drei Wahlkämpfe in den zurückliegenden sechs Monaten geführt hatten, einen enormen Unterschied für die Kampagnenfähigkeit machte – gerade in Bezug auf Straßenwahlkampf, Plakatierung und Haustürwahlkampf. Vor diesem Hintergrund braucht es die kontinuierliche Einbindung dieser vielen Neumitglieder, denn sie sind die Grundlage für erfolgreiche zukünftige Wahlkämpfe.

19 Geschlossenheit ist wahlentscheidend.

Nach einer Phase großer Geschlossenheit im November und Dezember 2024 gelang es uns
BÜNDNISGRÜNEN nicht, im Januar diese innerparteiliche Geschlossenheit in einer Wahlkampfsituation zu halten.

Die LINKE indes hat es – als notorisch zerstrittene Partei – vielleicht zum ersten Mal überhaupt geschafft, in einem Wahlkampf ein nach außen komplett geschlossenes Bild abzugeben, trotz massivster parteiinterner Konflikte in den Themenbereichen Antisemitismus und Ukraine-Unterstützung: Diese wurde nach extern konsequent nicht thematisiert, der politische Gegner*innen wurden geschlossen angegriffen. Aus der Drucksituation, in der absoluten politischen Todeszone zu sein, setzte parteiintern ein massives Innen-Außen-Denken ein, das für die unterschiedlichsten Strömungen einen gemeinsamen Wahlkampf möglich machte, der die internen Konflikte aus dem Blickfeld nahm.

Insgesamt kann man sehen, dass dieser Wahlkampf auch entlang der Frage der jeweiligen Geschlossenheit entschieden wurde: CDU/CSU, Linkspartei und AfD waren für ihre Verhältnisse und vor allem im Vergleich zu 2021 sehr viel geschlossener, das BSW, die FDP, SPD nicht – wir BÜDNISGRÜNE waren es schlussendlich nicht ausreichend. Geschlossenheit ist bei weitem nicht alles, und sie darf nicht mit Widerspruchslosigkeit und Vasallentreue verwechselt werden, aber in den wenigen Wochen der heißen Wahlkampfphasen ist sie zwingend notwendig, wenn man nicht entscheidende Wähler*innenstimmen verlieren will. In den aktuellen Wahlkämpfen mit enger werdenden Korridoren für demokratische Mehrheitsregierungen, Sperrminoritäten etc. haben wir nicht mehr den Luxus, auf Prozente, die aus eigenen Fehlern verloren werden, verzichten zu können.

Abschnitt III – Erkenntnisse über den Wahlkampf hinaus


20 Mehrheiten für progressive Politik gibt es nur, wenn man Wähler*innen von konservativen Parteien gewinnt und zugleich Verluste in Richtung der LINKEN verhindert.

Den Rechtsruck in Deutschland wird man am Ende nur überwinden, wenn es progressiven Parteien gelingt, auch Wähler*innen zurückzugewinnen, die nicht dauerhaft konservative Parteien wählen. BSW und Linkspartei zeigen, wie genau dies nicht (nachhaltig) gelingen wird; Diese Aufgabe wird bei SPD und BÜNDNISGRÜNEN liegen. Die SPD wird hierbei durch ihre Zusammenarbeit mit der Union in einer Regierung unter schwierigsten Bedingungen mehr als eingeengt sein. Sie hat in der Vergangenheit zwar bewiesen, dass sie als kleiner Koalitionspartner auch Bundestagswahlen gewinnen kann, in der aktuellen Ausgangslage muss man dieses Szenario aber vorerst als eher unwahrscheinlich einordnen. Es wird die Aufgabe von uns BÜNDNISGRÜNENsein, als einzige ernstzunehmende Oppositionsfraktion zwischen einer in Teilen rechtsextremen, laut schreienden AfD und einer fundamentaloppositionellen Linkspartei sehr hörbar zu sein und den Bürger*innen jeden Tag aufzuzeigen, wie eine bessere Bundesregierung aussehen könnte. Als führende Kraft der fortschrittsorientierten Mitte, die ihre Zukunft in Europa sieht. Die als Oppositionspartei klar agiert, aber nicht platt.

Aus den Zugewinnen der Bundestagswahl 2021 und den nunmehrigen Verlusten der aktuellen Bundestagswahl zeigt sich die bedeutende Rolle, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der Ermöglichung progressiver Mehrheiten in Deutschland zukommt. Wir sind als Partei grundsätzlich in der Lage gleichermaßen von links wie von konservativer Seite Stimmen zu gewinnen, aber auch zugleich in beide Richtungen zu verlieren. Damit kommt uns die elektorale Doppelrolle zu, sowohl lagerübergreifende Koalitionen zu ermöglichen als auch entscheidender Faktor für progressive Mehrheiten zu werden. Dies gelingt jedoch nur, wenn nicht in beide Richtungen gleichermaßen verloren wird. Unser diesbezüglicher Erfolg 2021 war die Grundlage für die Ampel, die nach acht Jahren Schwarz-Rot die Zeit für eine progressive Gesellschaftspolitik einläuten sollte.

21 Die LINKE unterschätzt die Heterogenität ihrer Wählerschaft.

Der Sprint-Erfolg der LINKEN ist maßgeblich auf drei Faktoren zurückzuführen: Ein Sogmomentum als die LINKE sich in ersten Umfragen wieder über der Fünf-Prozent-Hürde einfand, der Sammlung all jener Kräfte, die keine Partei wählen wollten, die absehbar an einer Bundesregierung unter Führung der CDU beteiligt sein könnte und einer LINKEN-untypischen Geschlossenheit, wodurch die Kampagne nicht durch Streitigkeiten überlagert wurde. Gleichzeitig darf nicht der Fehler gemacht werden, dass aus dieser Multikausalität eine Kohärenz der Erwartungsbilder der Wähler*innen der LINKEN an die Partei erwächst – 80% der Wähler*innen der LINKEN sind beispielsweise dagegen, die Ukraine weniger militärisch zu
unterstützen, obwohl die Partei genau das vor und nach der Wahl faktisch fordert. Ähnliche Konfliktlinien gibt es in den Themenfeldern Klimaschutz und Antisemitismus. Hierin liegt eine Chance für die Rückgewinnung von Wähler*innen für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit einer entsprechend klugen Politik.

22 In emotionaler Zuspitzungen braucht es mehr als bloße Rationalität.

Der Wahlkampf wurde maßgeblich auf der Basis von Emotionen entschieden – Emotionen gegen die GRÜNEN und Emotionen mit denen andere – erfolgreiche – Parteien ihre Wähler*innen an sich binden konnten. Wir BÜNDNISGRÜNE haben dieser Emotionalität einen erneut sehr rationalen Politikansatz entgegengesetzt – keineswegs erfolglos, aber mit weniger Zuspruch als erwartet. Wenn dieser Ansatz zukünftig erfolgreich sein soll, muss er zu einer Emotionalisierung der Rationalität verbunden werden und zugleich hierzu stärker als bisher auf die direkte Botschaftsvermittlung setzen. Die vielen neuen Mitglieder bieten hierfür in der Breite ihrer Vernetzung eine große Chance.

23 Es braucht Solidarität mit GRÜNEN Wahlkreisen, die als Battlegrounds getargeted werden.

Die Wahlkreise Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Leipzig II sahen sich in diesem Wahlkampf einer massiven Überzahl an Linkspartei-Wahlkampf-Ressourcen gegenüber, die an diesen Orten gezielt teilweise aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengezogen wurden und teils auch mit fragwürdigen Methoden gezielt GRÜNE Wählerklientele abwarben – unter anderem mit einer starken Polarisierung entlang der Frage Israel-Gaza, in der die BÜNDNISGRÜNEN als Partei diffamiert wurde, die entgegen aller Fakten nur einseitig Position für Israels Regierungspolitik beziehe. Ein derartiges bundesweit koordiniertes „Einfallen“ in Wahlkreise muss auch von der Gesamtpartei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beantwortet werden, denn sie übersteigt die Kräfte einzelner Kreisverbände massiv. Hierzu bedarf es eines gezielten strategischen Prozesses der Bundesebene der Partei mit den betroffenen Kreisverbänden, da schon zur nächsten Abgeordnetenhauswahl in Berlin wohl die nächste ähnliche Wahlkampfsituation vor der Tür steht.

24 Es braucht eine Optimierung der GRÜNEN Bund-Länder-Vernetzung.

In den Jahren 2021 bis 2025 änderte sich die Rolle des so genannten G-Kamins fundamental:
War man jahrelang zentrales GRÜNES Machtzentrum gewesen und hatte hier den zentralen
Akteur für das Nutzen bundespolitischer Macht-Hebel, bedeutete die erste GRÜNE Regierungsbeteiligung seit 16 Jahren auf Bundesebene eine Neuaufstellung und Komplexitäts-Steigerung der bundespolitischen Abstimmungs-Mechanismen zwischen GRÜN-regierten Ländern, Bundestagsfraktion und Mitgliedern der Bundesregierung. Gerade angesichts der hohen Taktzahl von Gesetzgebungen blieb oft wenig Zeit, über die grundlegenden Fragen einer optimierten gemeinsamen Aufstellung zu sprechen und die Strukturen der GRÜNEN Bund-Länder-Vernetzung zu optimieren. Eine der Konsequenzen ist, dass GRÜNE anders als
Union und SPD in öffentlichen Debatten weniger oft koordiniert die kommunikative Kraft ihrer Landespolitiker*innen einsetzen. Der nun erneute Rollenwechsel der zentralen Steuerung der GRÜNEN Bund-Länder-Vernetzung und sein Ziel, im Verlauf der nächsten Landtagswahlen wieder mehrheitsformende Stimmenanteile im Bundesrat zurückzugewinnen, müssen nun Anlass sein, die Zusammenarbeit der BÜNDNISGRÜNEN in den Ländern und Bundestagsfraktion zu stärken und noch stärker in eine koordinierte gemeinsame bundespolitische Arbeit zu kommen.

25 Wir brauchen eine Antwort auf die autoritäre und die populistische Versuchung

Um den im Vorwort beschriebenen Problemlagen zu begegnen, braucht es eine Politik, die
die Überforderung von Menschen mit dem Zustand der Welt kleiner macht, statt größer: Je
komplizierter die Welt, umso einfacher muss die politische Sprache sein – nur so reißt man die Ohnmachtsbrücken hin ins autoritäre Denken ein. Klar, aber nicht platt. Fortschrittlich, aber umsetzbar. Hier gemeinsam einen richtigen kommunikativen Weg zu finden, wird essenziell für BÜNDNISGRÜNE Wahlergebnisse, aber noch viel mehr für die Zukunft demokratischer Regierungsmehrheiten.