"Neuer Kalter Krieg? Im Osten sagt das fast niemand"
Ost und West blicken unterschiedlich auf den Ukraine-Krieg und die Folgen. Mit Zeit Online sprach ich über alte Denkmuster und wie man diese aufbrechen kann.
Paula Piechotta wurde 1986 in Gera geboren. Seit 2021 sitzt sie für die Grünen im Bundestag. Als Sprecherin der ostdeutschen Abgeordneten beschäftigt sich die gelernte Ärztin auch mit der unterschiedlichen Wahrnehmung politischer Entscheidungen in Ost und West.
ZEIT ONLINE: Frau Piechotta, linke und rechte Gruppen hoffen angesichts von Ukraine-Krise und steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen auf einen heißen Herbst. Die erste größere Demonstration gab es in Leipzig. Ist die Proteststimmung im Osten größer als im Westen?
Paula Piechotta: Im Osten fehlt bekanntermaßen der Wohlstandspuffer. Private Haushalte haben einfach weniger finanziellen Spielraum, wenn Dinge teurer werden. Ebenso wie viele unserer Unternehmen; wir haben viele kleine und mittelständische Firmen und nicht die ganz großen Player. Wenn der Puffer fehlt, haben Menschen natürlich auch schneller Existenzängste und gehen unter anderem deshalb demonstrieren. Das ist aber nur ein Grund von vielen.
ZEIT ONLINE: Auch während der Corona-Pandemie gab es im Osten eine besonders ausgeprägte Protestszene. Droht da jetzt eine Neuauflage?
Piechotta: Bei den Demonstrationen am 5. September in Leipzig, zu denen unter anderem die rechtsextremen "Freien Sachsen" aufgerufen hatten, waren noch immer viele Corona-Plakate dabei. Die "Freien Sachsen" haben während der Pandemie sehr stark zu Corona-Protesten mobilisiert, die zuletzt aber immer weniger Menschen anzogen. Jetzt werden die Demos neu aufgesetzt, mit den neuen Themen Energiepreise und soziale Gerechtigkeit, teilweise sind aber immer noch Corona-Protestplakate dabei. Der Vorteil der Veranstalter ist, dass sie auf die bestehenden Organisationsstrukturen zurückgreifen können.
ZEIT ONLINE: Aber wie passt das inhaltlich zusammen? Nur weil man Corona-Maßnahmen ablehnt, muss man ja nicht gegen Sanktionen gegen Russland sein.
Piechotta: Wenn man mit den Demonstranten spricht, und viele von uns in Ostdeutschland haben ja auch Unterstützer der Proteste im Familien- und Bekanntenkreis, dann ist das sehr komplex, oft geht es auch darum, es "denen da oben" mal richtig zu zeigen. Das ist ein häufig wiederkehrendes Motiv, die inhaltlichen Aufhänger wechseln, von Flüchtlingen über Corona bis zu Energiepreisen. Oft braucht es einige Zeit, um eine gemeinsame Linie zu finden, das war bei Corona so, wo die Demonstrationen erst mit Verspätung starteten, und auch zu Beginn des Ukraine-Kriegs waren die Rechten in Ostdeutschland noch gespalten. Einige haben die Ukraine unterstützt, Teile der AfD dagegen haben versucht, die russische Sicht unter die Menschen zu bringen. Jetzt positioniert man sich gemeinsam gegen die Bundesregierung. Den rechten Veranstaltern geht es darum, zu mobilisieren gegen demokratische Parteien, das macht die unterschiedlichen Proteste untereinander anschlussfähig.
ZEIT ONLINE: Nicht nur Rechtsextreme lehnen die Politik der Bundesregierung ab. Gerade ergab eine Forsa-Umfrage, dass 65 Prozent der Befragten im Osten eine Öffnung von Nord Stream 2 befürworten. Im Westen sehen das gerade 35 Prozent so. Auch die Zustimmung zu den Sanktionen und zu Waffenlieferungen an die Ukraine ist im Westen deutlich höher als im Osten. Wie lässt sich das erklären?
Piechotta: Viele Menschen fallen derzeit in alte Denkmuster zurück. Wenn man in Westdeutschland groß geworden ist, erinnert die derzeitige Situation an den Kalten Krieg – stark vereinfacht gesagt: Die Bösen sitzen in Moskau, gegen die müssen wir kämpfen, und am Ende werden wir uns mithilfe der Nato durchsetzen. Die wirkliche aktuelle Situation ist komplexer, aber die Schablone hilft, sich zurechtzufinden. Auch westdeutsch sozialisierte Bürgermeister in Ostdeutschland sagen oft, das sei jetzt ein neuer Kalter Krieg. Im Osten sagt das fast niemand, denn es ist alles anders als früher.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Piechotta: Eine Erfahrung vieler, die die DDR noch erlebt haben, war ein Gefühl, gerade auch nach dem Prager Frühling 1968, dass man sich nicht gegen sowjetische Kräfte auflehnen sollte, weil die hier überall ihre Kasernen hatten. Auch der öffentlich verordnete Antiamerikanismus, die Kritik an der Nato und der westlichen Rüstungsindustrie – all das sitzt bei vielen Menschen sehr tief. Was die Leute hier außerdem stark bewegt, sind steigende Rüstungsausgaben, denn auch das Narrativ, dass Kriege letztlich vor allem aufgrund der Interessen von Rüstungskonzernen geführt werden, ist weitverbreitet. In diese Denkmuster fallen nun viele zurück. Um diese Bruchlinie zwischen Ost und West nicht zum Graben werden zu lassen, wäre es daher sehr hilfreich, wenn niemand mehr vom "neuen Kalten Krieg" reden würde.
ZEIT ONLINE: Nun könnte die Stimmung im Osten ja gerade aufgrund der historischen Erfahrung auch eine besonders russlandkritische sein, so wie es in anderen osteuropäischen Staaten der Fall ist. Stattdessen ist in Ostdeutschland die Solidarität mit Russland besonders groß. Wie kommt das?
Piechotta: Das hat viele Gründe, einer ist vielleicht, dass nach 1990 die Entwicklung in unseren postsowjetischen Nachbarländern und in Ostdeutschland sehr unterschiedlich gelaufen ist. In den Achtzigerjahren nahm die DDR-Opposition viele Anregungen auf von Oppositionsbewegungen in Polen und anderen Nachbarländern, dieser Blick in die Nachbarländer brach 1990 aber zu großen Teilen ab, weil man in den Neunzigerjahren sehr stark mit sich selbst beschäftigt war. Die jetzige Krise kann aber auch eine Chance sein, an die gemeinsame Vergangenheit der Ostdeutschen und der Osteuropäer anzuknüpfen und diese Leerstelle zu füllen. Man hat schließlich mal gemeinsam für das gekämpft, worum es auch heute in der Ukraine geht: Selbstbestimmung, freie Wahlen und Demokratie.
ZEIT ONLINE: Nun ist die DDR ja schon seit 32 Jahren Geschichte, bei den Demonstrationen, bei denen eine Abkehr von den Sanktionen gegen Russland gefordert wird, laufen aber auch viele Jüngere mit. Taugt der Rückgriff auf historische Erfahrungen da überhaupt noch als Erklärung oder auch als Argument?
Piechotta: Schon. Die Umbrucherfahrungen nach 1990 haben oft große Traumata in den Familien hinterlassen, die an die jüngeren Generationen weitergegeben werden. Ich selbst beispielsweise kann mich nicht an den Mauerfall erinnern, weil ich damals erst drei Jahre alt war. Aber ich kann mich erinnern an die vielen Umzüge, die vielen Berufswechsel der Eltern, die viele von uns in den Neunzigerjahren erlebt haben, als wir in die Grundschule gingen. Als ich anfing, Lokalzeitung zu lesen, war der bleibendste Eindruck, dass es immer die Karten gab, wie hoch die Arbeitslosigkeit in welchem Landkreis war. Solche Erfahrungen verschwinden nicht einfach in 20 oder 30 Jahren.
ZEIT ONLINE: Was hat das jetzt mit der Einstellung zum Krieg zu tun?
Piechotta: In den Neunzigerjahren hatten die wenigsten Zeit, um sich damit zu beschäftigen, wie man zum Grundgesetz steht und warum Parteien jetzt vielleicht etwas Positiveres sein könnten als zu DDR-Zeiten, zu groß waren die Umbrüche. Als ich 2021 in den Bundestag kam, haben viele meiner neuen Abgeordnetenkollegen erzählt, dass ihre Familien sich über ihre Wahl gefreut haben und sie mal im Bundestag besuchen wollen. Meine Familie hat gesagt: Dass du jetzt bei diesem Mist auch noch mitmachst, können wir nicht verstehen. Das zeigt, wie negativ konnotiert Parteien in Ostdeutschland oft noch sind und wie gering das Vertrauen in staatliche Institutionen ist – auch 30 Jahre nach der Wende. Das wird zu einem besonders großen Problem, wenn Politik angesichts großer Krisen besonders weitreichende Entscheidungen treffen muss und dafür auch Vertrauen aus der Bevölkerung braucht, ähnlich wie während der Corona-Pandemie.
ZEIT ONLINE: Werden Sie als ostdeutsche Grüne besonders oft für die prinzipielle Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert?
Piechotta: Meine westdeutschen Kollegen bekommen vermutlich seltener solche Sticker vorgehalten. ( Hält einen Aufkleber hoch, der die grüne Außenministerin Annalena Baerbock auf einer Rakete reitend zeigt, darunter steht "Aber gegendert" .) Andererseits ist das für uns Grüne in Ostdeutschland auch nichts Neues: Wir haben, was das Verhältnis zu Russland angeht, schon immer eine andere Haltung gehabt als alle anderen Parteien in ostdeutschen Landtagen. Wir waren im Osten die einzigen, die gegen den Bau von Nord Stream 2 waren. Deswegen ist die Ablehnung, die wir jetzt spüren, nichts Neues.
ZEIT ONLINE: Wie reagieren Sie auf die Kritik?
Piechotta: Grundsätzlich erinnere ich daran, dass die Ukraine für das Gleiche kämpft, wofür viele Menschen hier 1989 auf die Straße gegangen sind: Für Demokratie, freie Wahlen und dafür, dass sie selber entscheiden, in welche Himmelsrichtung sie sich in Europa orientieren wollen. Ich erinnere auch daran, dass gerade für die Ostdeutschen Frieden ein hohes Gut ist. Anders als im Westen gibt es in Ostdeutschland wohl keine Landtagswahl ohne Friedensplakate, selbst wenn über Frieden und Krieg selten im Landtag entschieden wird. Gerade wenn man Frieden und Abrüstung will, darf man nicht zulassen, dass jemand, der einen Angriffskrieg führt, im Jahr 2022 damit erfolgreich ist.
ZEIT ONLINE: Können Sie damit jenseits Ihrer grünen Bubble irgendjemanden erreichen?
Piechotta: Wir können die Menschen erreichen, die demokratische Parteien wählen. Und das sind in Sachsen mehr als 60 Prozent. Wenn man denen sagt, dass Wladimir Putin nicht Michail Gorbatschow ist und dass hier ein Brudervolk ein anderes überfällt, kann man schon ins Gespräch kommen. Aber bei rechtsextremen Menschen mit gefestigten Weltbildern wird man nichts erreichen.
ZEIT ONLINE: Hilft das Maßnahmenpaket der Bundesregierung zur Abfederung der sozialen Folgen, um die Gemüter in Ostdeutschland zu beruhigen, oder spielt es eher keine Rolle?
Piechotta: Das Maßnahmenpaket hilft, auch wenn es natürlich die Debatte über den Krieg nicht dreht. Wir als Grüne haben sehr stark dafür gekämpft, vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen zu entlasten. Weil es im Osten leider immer noch einen besonders hohen Anteil von Menschen mit niedrigen Einkommen gibt, kommt am Ende überproportional viel vom Entlastungspaket im Osten an. Auch von der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro werden hier besonders viele profitieren. Aber wir müssen klarmachen, dass wir nachsteuern, wenn es notwendig wird.
ZEIT ONLINE: Befürchten Sie, dass die Spaltung zwischen Ost und West durch den Ukraine-Krieg weiter zunimmt?
Piechotta: Die Gefahr besteht, weil einfach so viele davon profitieren. Deswegen müssen wir alles daransetzen, das zu verhindern. Wir sollten nicht betonen, was uns spaltet, sondern was uns eint: Dass wir in Europa in Frieden leben und wieder in eine Situation kommen wollen, in der wir weniger Geld für Rüstung ausgegeben müssen. Dafür müssen wir verhindern, dass sich Kriege wieder lohnen. Das leuchtet auch in Ostdeutschland sehr stark ein.