Im Schatten der vielen detaillierten Änderungsanträge an den Grundsatzprogramm-Entwurf schält sich langsam ein neuer Grundsatz-Konflikt der innergrünen Debatte heraus, den viele von uns nicht kommen sahen: Die Frage der Zulässigkeit von Rendite-Begrenzungen im deutschen Gesundheitswesen.
Der Bundesvorstand schlägt, und man kann hierbei teilweise eine große Unschärfe in den Begrifflichkeiten kritisieren, eine Begrenzung der Renditen im deutschen Gesundheitswesen vor. Wortwörtlich heißt es:
„Gesundheitsversorgung ist öffentliche Aufgabe. Sie muss dem Menschen und der Allgemeinheit zugutekommen und dient nicht dem Zweck, hohe Renditen zu erzielen. Öffentliches und beitragsfinanziertes Geld muss im System bleiben. Der Trend zur Privatisierung im Krankenhausbereich muss gestoppt werden.“
Festzuhalten ist, dass eben keine komplette Absage an jegliche Renditeerwartungen im Gesundheitswesen formuliert wird, womit sich der Entwurf deutlich von so manchem DGB-Papier unterscheidet. Was genau in den Definitionsbereich „hoher“ Renditen fiele wird jedoch nicht ausformuliert. Darin liegt wahrscheinlich begründet, dass nun Einzelne vor einer vermeintlich unreflektierten Übernahme von gesundheitspolitischen Positionen Dritter in die Bündnisgrüne Programmatik warnen.
Grundsätzlich ist es nachvollziehbar, dass die Frage der Renditen im Gesundheitswesen jetzt zum Thema gemacht wird: Einerseits haben wir in den letzten Monaten gesehen, wie wichtig ein stabiles bezahlbares Gesundheitswesen für die Gesellschaft sein kann. Andererseits sind vor diesem Hintergrund die mehrheitlich als Fehlentwicklung gewerteten zunehmenden nicht-medizinischen Investor_innen im Gesundheitswesen breiter problematisiert worden (siehe bspw. ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier: https://www.aerzteblatt.de/archiv/203525/Patientenversorgung-unter-Druck-Gegen-die-Kommerzialisierung).
Es geht dabei nicht um den Gewinn einer kleinen Hebammenpraxis, sondern neben den schon länger diskutierten privaten Krankenhäusern um die immer vordergründigere Übernahme insbesondere von Pflegeheimen und Kassensitzen mit konkreten Renditeerwartungen. Während es stimmt, dass in privaten Kliniken teilweise wahrscheinlich eine bessere Behandlungsqualität erreicht wird als in manchen öffentlichen oder gemeinnützigen Kliniken sollte man diesen Punkt aber im Kontext betrachten: Private Kliniken legen gern einen Fokus auf lukrative Diagnosen – die dabei mögliche Konzentration auf standardisierte Behandlungsabläufe trägt im Regelfall auch zu einer besseren Qualität bei. Was aber deutlich seltener diskutiert wird: Dass dies leider auch bedeutet, dass sich der Anteil an „unlukrativen“ Patient_innen in den anderen Krankenhäusern potentiell erhöht: Patient_innen mit hohem Pflegeaufwand, Patient_innen mit seltenen Erkrankungen, die viel Diagnostik erfordern, Patient_innen die länger im Krankenhaus verbleiben müssen, einfach weil die notwendige ambulante Pflege noch nicht organisiert ist: All das sind potentiell wenig lukrative, aber gesellschaftlich sehr notwendige Behandlungen und sie werden im Regelfall nicht von Orthopädischen Spezialkliniken oder Herzzentren behandelt.
Im schlimmsten Szenario gingen bei zunehmender Konsolidierung des Marktes und zunehmender Diagnosen-Rosinenpickerei alle lukrativen Fälle in private, besser mit privatem Kapital ausgestattete Kliniken. Wenig lukrative Fälle würden zunehmend in öffentlichen und gemeinnützigen Häusern behandelt, die dadurch potentiell noch unrentabler arbeiten und zu Übernahme-Kandidaten würden. Man hätte den wenig erstrebenswerten Effekt, dass dank Rosinenpickerei bezüglich der Diagnosen große Renditen aus dem größtenteils öffentlich finanzierten Gesundheitswesen herausgezogen werden könnten während gleichzeitig die verbliebenen, weniger renditeorientierten Kliniken potentiell noch größere Verluste hinnehmen müssten. Das ist natürlich nur eine holzschnittartige Betrachtung und blendet eine Vielzahl an weiteren, teilweise gegenläufigen Effekten aus, beispielsweise auch die zunehmend wettbewerbsorientierte Aufstellung vieler öffentlich finanzierter Kliniken und die Bemühung um die Steigerung der Diagnosen lukrativer DRGs auf allen Seiten. Es berücksichtigt auch nicht die oft schlechteren Arbeitnehmer_innen-Rechte insbesondere in kirchlichen Häusern und die Frage der sehr kleinen Krankenhäuser, die teilweise auch vor dem Hintergrund der Behandlungsqualität problematisch sind. Die Frage aber, welche negativen gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen mit einer zunehmenden Kommerzialisierung im Gesundheitswesen verbunden wären, sie ist berechtigt. Entwicklungen wie bspw. Marktkonzentration und Personalreduktion könnten die Versorgungsrealität der Patient_innen, die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter_innen sowie die Lohnnebenkosten aller Erwerbstätigen weit grundlegender verändern als dies bislang der Fall ist.
Sehr marktradikale Gesundheitssysteme wie jenes in den USA zeigen, welch enorme negative gesellschaftliche Folgen ein solches Gesundheitssystem erzeugt, in dem zweifelsohne viele Anbieter enorme Renditen generieren können. Gleichzeitig zeigen Gesundheitssysteme wie der NHS im Vereinigten Königreich, dass ein staatliches Gesundheitssystem nicht automatisch perfekte Behandlungsbedingungen bedeutet: Teilweise enorme Wartezeiten für Patient_innen und die Abhängigkeit des Leistungsspektrums vom Wohnort sind sicherlich keine erstrebenswerten Merkmale. Gleichzeitig ist natürlich die viel gehörte Anmerkung richtig, dass auch die unzureichende Investitionskostenfinanzierung der Bundesländer ihren Teil dazu beigetragen hat, dass privates Kapital eine essentielle Rolle in der Entwicklung der deutschen Kliniklandschaft bekommen hat. Gerade aber angesichts der postpandemisch vergrößerten politischen Gewichtung von Gesundheitspolitik ist diese Entwicklung nicht in Stein gemeißelt.
Darüber hinaus kann man eine politische Positionierung zu Renditen im Gesundheitssystem kaum mit der Haltung zu Renditen in anderen Wirtschaftssektoren vergleichen: Das deutsche Gesundheitssystem enthält seit Jahrzehnten bereits erhebliche planwirtschaftliche Elemente, von der Krankenhausplanung der Länder über die Organisation der Kassenarztsitze bis hin zur Festlegung einheitlicher Vergütungsmaßstäbe. Mit dem daraus resultierenden Kompromiss zwischen einem zum größten Teil staatlich organisiertem System und einem primär marktwirtschaftlich organisiertem System sind wir bislang relativ gut gefahren.
Wer Gesundheitswesen wirklich verbessern will, der muss sich natürlich parallel engagieren auf dem Gebiet der Behandlungsqualität: Oft wird zu Recht beklagt, dass auch im deutschen Gesundheitssystem kaum die Behandlungsqualität vergütet wird sondern nur die reine Quantität an Leistung: Beispielsweise werden ambulante MRTs, die mit schlechter Bildqualität und unzureichender Aussagekraft durchgeführt werden, im Normalfall genauso gut vergütet wie hochwertige MRT-Untersuchungen, auch wenn letztere deutlich mehr Ressourcen verbrauchen. Die Zahl der durchgeführten Rücken-Operationen wird vergütet, auch wenn ein relevanter Anteil dieser OPs den Patient_innen nicht helfen dürfte. Hier könnte beispielsweise die konsequente Trennung der Leistungserbringer_innen von Indikationsstellung und Durchführung der Therapie einen Unterschied machen – der bereits erfolgte breitere Zugang zur medizinischen Zweitmeinung kann hier ein sinnvoller Anfang sein.
Ohne das Ergebnis im Grundsatzprogramm-Prozess vorwegzunehmen: Die Debatte zur optimalen Organisation des Gesundheitswesen kann durchaus auch die Frage zulässiger Renditen beinhalten, denn das Gesundheitssystem ist bereits heute in besonderer Weise kein rein wettbewerblich organisiertes System und die permanente Ausverhandlung der Balance zwischen wettbewerblichen und nicht wettbewerblichen Elementen ist genuine Aufgabe von Politik – gerade auch angesichts der Negativbeispiele in anderen Ländern.