Als vor wenigen Wochen Michail Gorbatschow starb bewegte das viele Menschen in Deutschland, vor allem aber in Ostdeutschland. Vor dem Hintergrund der teils großen Polarisation innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft war es faszinierend zu beobachten, wie deutlich hier trotz aller großen Meinungsverschiedenheiten die Dankbarkeit gegenüber Gorbatschow und seinen Verdiensten um die deutsche Einheit ein über fast alle politischen Lager hinweg verbindendes Gefühl war. Einerseits, weil ohne seine Zurückhaltung (die er nicht allen sowjetischen Staaten zuteil werden ließ, die sich um Unabhängigkeit bemühten) dem Mut der Demonstrierenden auf dem Leipziger Ring 1989 mit deutlich mehr Gewalt und Widerstand begegnet worden wäre, es die Friedliche Revolution in dieser Form so nicht gegeben hätte und unser aller Leben heute anders aussähe. Aber wahrscheinlich eben auch, weil gerade in diesen Wochen sein Tod noch einmal ein Gefühl konkret werden lässt, das eigentlich nur diffus und unterschwellig da ist: Das Gefühl, dass 1989 mit etwas weniger Glück ähnlich gewaltsam und grausam hätte verlaufen können wie das, was gerade in der Ukraine passiert, wenn Moskau auf die Leipziger Montagsdemonstrationen so reagiert hätte wie auf den Euromaidan 2013/2014.
Denn die Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine setzen sich ein für vieles, für das auch Bürgerinnen und Bürger der DDR 1989 auf die Straße gegangen sind: Unabhängigkeit, freie Wahlen, Selbstbestimmung. Nur haben sie leider weniger Glück als die Demonstrierenden im Herbst 1989, bei denen zur Überraschung vieler kein Schuss fiel. Und doch ist gerade in Ostdeutschland die Zustimmung zu einer aktiven Unterstützung der Ukraine in Umfragen signifikant niedriger als in Westdeutschland.
Damit können wir uns aber nicht abfinden, denn in der Auseinandersetzung mit neuen Großmachtanwandlungen und Angriffskriegen bestehen wir am besten, wenn wir nicht nur in Europa zusammenhalten, sondern auch innerhalb der einzelnen europäischen Länder der Schulterschluss groß ist, auch zwischen Ost- und Westdeutschland. Eine verstetigte Bruchkante in einen Meinungsraum Ost und einen Meinungsraum West schwächt unsere politische Handlungsfähigkeit. Das ist einer der Gründe, warum wir uns einer noch stärkeren Spaltung in Ost- und Westdeutschland in diesem Herbst, wie sie von Teilen der Linkspartei, einzelnen ostdeutschen Ministerpräsidenten und rechtsextremen Parteien aus jeweiligem Eigennutz forciert wird, entgegenstellen müssen. Im Folgenden einige Punkte, die dazu beitragen können, in Ost- und Westdeutschland zu einem gemeinsamen Verständnis des Kriegs in der Ukraine und seiner Folgen zu kommen und damit das Land nicht nur zusammenzuhalten, sondern angesichts der aktuellen Herausforderungen einen großen Schritt hin zu einer vollständigeren, gelingenderen Wiedervereinigung zwischen Ost- und Westdeutschland zu kommen.
1 Die aktuelle Situation ist für alle Menschen in Ost- wie Westdeutschland zutiefst verstörend, vor allem kurz nach der ebenfalls für viele traumatisierenden Corona-Krise, vor allem für Menschen mit niedrigen Einkommen und fehlendem Wohlstandspuffer in Ost- und Westdeutschland. Wo Preise eben noch kalkulierbar waren, wohin wir eben noch reisen konnten, wo es eben noch selbstverständlich Erasmus-Semester und Sport-Wettkämpfe gab ist jetzt Unsicherheit, Existenzangst und die Gewissheit, dass Krieg wieder in der Nachbarschaft stattfindet. Am Punkt der Planbarkeit und Existenzsicherheit setzen die Entlastungspakete der Bundesregierung an, die unglaublich wichtig sind, deutlich vor den tatsächlichen Kostensteigerungen auf den Weg gebracht werden und doch allein die Ängste in großen Teilen der Bevölkerung nicht allein ausräumen können: Die Frage nach dem Sinn von Waffenlieferungen und der Zukunft Europas, die Angst vor allem auch der Generation über 80 vor einem neuen Krieg, die Frage nach dem Sinn europäischer Solidarität können Entlastungspakete nicht beantworten. Für viele sowohl in West- als auch Ostdeutschland, die sich jahrzehntelang für die – funktionierende – Friedenssicherung innerhalb der Grenzen der Europäischen Union stark gemacht haben sind die oft brachial wirkenden Diskurse über mehr Militärmaterial, Aufrüstung und Abschreckung zutiefst traumatisierend. Wenn wir auch in diesen Fragen uns als Gesellschaft gemeinsam weiterentwickeln wollen müssen wir vermeiden, in altbekannte Erzählungen mit klaren Fronten zurückzufallen, sondern gemeinsam die neue Realität mit einer multipolaren Welt im Jahr 2022 und unserer Rolle zu begreifen. Solange das nicht passiert, werden weiter viele in Westdeutschland in alte Narrative des Kalten Kriegs zurückfallen, die auf Menschen in Ostdeutschland, die sich plötzlich auf der anderen Seite des vermeintlichen Kalten Kriegs 2.0 wiederfinden, befremdlich und teilweise auch kränkend wirken.
Denn zur Wahrheit gehört – trotz aller Unsicherheiten der veränderten politischen Realitäten – dass im Moment viele Bürger_innen aus den Alten Bundesländern trotz allem gut sortiert wirken, orientiert wirken, trotz Angriffskrieg auf die Ukraine, trotz Gefahren für die Unternehmen, Sanktionen gegen Russland und die veränderte geopolitische Gesamtsituation. Denn natürlich ist nicht alles wie vor 1989, aber man kann beobachten, dass das Rückfallen in alte, vor Jahrzehnten erlernte Denkmuster des Kalten Krieges für viele der kognitive Weg des geringsten Widerstands ist und Orientierung bietet. Das, was wir aktuell erleben, ist kein Kalter Krieg reloaded in allen seinen Facetten, aber wenn man die Denkschablonen der Jahre vor 1989 anwendet, dann hat man zumindest keine größeren Irritationen beim Gedanken an Waffenlieferungen, den Boykott russischer Importe, einer starken NATO und dem Ziel, die russischen Machtansprüche erfolgreich zu verhindern. Das mag in Teilen erklären, warum die demoskopisch messbaren Zustimmungswerte zu Sanktionen, Waffenlieferungen und Militärbündnis in den Alten Bundesländern trotz sinkender Zustimmung eine deutliche Mehrheit bilden.
Deutlich anders ist die Situation in den Neuen Bundesländern. Jede Konfrontation mit aufgetauten Kalter-Kriegs-Narrativen erinnert hier daran, dass man dieses Mal auf der anderen Seite des Konflikts steht, aber ohne aber die gleichen Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten verinnerlicht zu haben. Schon allein dieser Perspektivwechsel kann überfordern und das Gefühl fehlender Orientierung in der aktuell unübersichtlichen Weltlage erzeugen. Alternative Narrative, die hier jahrzehntelang verinnerlich wurden und jetzt ein ausreichendes Maß an Orientierung liefern könnten, gibt es noch nicht. Aber natürlich gibt es Bilder, die man in Ermangelung besser passender Erzählungen schon auch irgendwie mit viel Ach und Krach auf die aktuelle Situation zimmern kann: Unter anderem jenes, dass man sich vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte besser nicht mit Moskau anlegen sollte und dass die NATO vermeintlich weniger zur eigenen Sicherheit als zur Aufrechterhaltung von Rüstungsproduktion beiträgt. Natürlich merken viele in Ostdeutschland, dass diese Erzählungen eine mehr als begrenzte Passfähigkeit für das bieten, was Putin aktuell vorantreibt und die aktuelle Situation mit ihnen nicht vollständig beschrieben werden kann – insbesondere die Frage, warum hier ein „Bruderland“ das andere angreift und warum überhaupt Russland auch aufrüstet. Von daher liegt hier in diesen durchaus spürbaren inneren Widersprüchen auch die Chance verborgen, entlang dieser Widersprüche die Bruchlinien dieser Erzählung aufzubrechen hin zu einem ehrlichen Blick auf die aktuelle Lage, der am Ende auch echte Orientierung bieten und funktionierende Lösungswege aufzeigen kann. Aber solang dieser für große Teile der ostdeutschen Bevölkerung nicht greifbar ist, die Sehnsucht nach Orientierung in unübersichtlichen Zeiten aber groß, solang werden wir den Rückgriff auf vertraute Narrative beobachten können, auch wenn diese nicht passen und zu Fehlschlüssen verleiten. Eines der absurdesten Anknüfungsangebote an vertraute Narrative machen in diesem Kontext Teile der Linkspartei und rechtsextreme Parteien, wenn sie jetzt „Montagsdemonstrationen“ anbieten wollen, die im Osten Selbstvergewisserung vermitteln und doch inhaltlich nicht nur wegen der Anmelder kaum weiter entfernt sein könnten von dem, für das 1989 unter großem Mut und mit permanenter Gefahr von Verhaftungen Menschen auf die Straße gingen. Allein schon die Anmaßung derer, die heute „Montagsdemonstrationen“ anmelden und hierbei suggerieren, sie gingen mit ähnlich viel Mut und Visionen auf die Straße wie die Menschen 1989, muss verstören; das Inkaufnehmen der offensichtlichen Gefahr, mit derartigen Anmeldungen aus demokratischen Parteien rechten Vereinnahmungen der Montagsdemonstrationen neue Anknüpfungspunkte in der Mitte der Gesellschaft zu bieten zeigt das fehlende Verantwortungsbewusstsein der Verantwortlichen.
2 Für den Zusammenhalt im Land zwischen Ost und West braucht es auch ein stärkeres In-die-Pflicht-Nehmen der ostdeutschen Landespolitiker_innen, denn nicht alle verhalten sich aktuell so verantwortungsbewusst wie beispielsweise Bodo Ramelow. Zu oft in diesen Monaten stellen insbesondere Vertreter_innen ostdeutscher Landesregierungen öffentlich die Sinnhaftigkeit nicht-militärischer Interventionen gegen Russland infrage, teils aus Naivität, teils aus Umfrage-genährtem Opportunismus, teils aus blindem Profilierungsstreben und werden anschließend unverzüglich von der AfD, rechtsextremen Kleinstparteien und Wagenknecht vereinnahmt. Michael Kretschmer ist hier die unrühmliche Gallionsfiguren seitens der ostdeutschen Ministerpräsidenten, aber auch eine Katrin Lange als Brandenburgische SPD-Finanzministerin sind Figuren, denen von Bundestags-Kolleg_innen ihrer eigenen Landesverbände regelmäßig widersprochen werden muss. Hier braucht es klare Beschlüsse bei CDU, SPD und Linkspartei in den ostdeutschen Landesverbänden zu Energieunabhängigkeit und Sanktionen, an denen auch Ministerpräsident_innen und Kabinettsmitglieder auf Landesebene nicht vorbeikommen.
3 Das Stichwort „Montagsdemonstrationen“ als Stichwort wirft ein Schlaglicht auf einen weiteren Aspekt der Bruchlinien im aktuellen ostdeutschen Blick auf den Krieg in der Ukraine: Als Bündnisgrüne in Ostdeutschland stellt man sich seit dem 24. Februar schnell die Frage, warum wir hier in Ostdeutschland nicht viel stärker die Parallelen zwischen dem Kampf der Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine, aber beispielsweise auch in Belarus, für Selbstbestimmung und eine stärkere Orientierung gen Westeuropa diskutieren. Die Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine und Belarus setzen sich so offensichtlich ein für vieles, für das auch Bürgerinnen und Bürger der DDR 1989 auf die Straße gegangen sind: Unabhängigkeit, freie Wahlen, eine Öffnung in Richtung Westeuropa. Man könnte sogar fragen, warum sich nicht mehr Deutsche in Ostdeutschland von den Maidan-Protesten – oder auch den Demonstrationen in Belarus – an die eigene Geschichte 1989 erinnert fühlen und deswegen die Unterstützung für den aktuellen Kampf um Selbstbestimmung doppelt und dreifach groß ist – oder wenigstens ebenso groß wie in manchen osteuropäischen Nachbarländern. Und doch ist genau das Gegenteil der Fall. Spricht man mit Beobachtern der Debatte, so hört man, das Narrativ der „Friedlichen Revolution“ sei zu schwach, es interessiere in Ostdeutschland niemanden, ob die Menschen in der Ukraine für ähnliche Werte kämpfen wie die Demonstrierenden 1989.
Man kann das Erbe von 1989 aber auch in anderer Form mit den aktuellen Ereignissen verbinden: „Visafrei bis Hawaii“, „Frieden schaffen ohne Waffen“, „Gorbi hilf uns – Glasnost auch in der DDR“, „China ist nicht fern“ – all das waren Demosprüche und Losungen in der DDR der 80er Jahre. Wenn es zu abstrakt ist, dass auf dem Maidan der gleiche Kampf geführt wird wie auf dem Leipziger Ring, so ist aber doch gut sichtbar, wie viele der Dinge, die 1989 erfolgreich erkämpft wurden von den Menschen in Ostdeutschland jetzt durch Putins Einreißen der Friedensordnung wieder drohen, verloren zu gehen: Bescheidener Wohlstand, Reisefreiheit, Frieden, eine deutliche Demilitarisierung der ostdeutschen Gesellschaft, Abrüstung und die damit verbundene Friedensdividende. Alle diese für Ostdeutschland guten Entwicklungen der Jahre nach 1989/1990, die auch Ziele der demonstrierenden Menschen in der DDR 1989 waren werden nun durch den Angriffskrieg auf die Ukraine gefährdet. Fast fühlt es sich an, als ob wir als Gesellschaft kollektiv einen zivilisatorischen Schritt zurück gehen müssten: Durch diesen Angriffskrieg muss Europa wieder größere Kräfte für Rüstung einsetzen. Durch diesen Angriffskrieg ist Europa wieder ein Stück weit wieder geteilt in West und Ost, wenn auch diesmal die Trennlinie tausende Kilometer weiter östlich verläuft. Putin zwingt diesen zivilisatorischen Rückschritt und dieser Rückschritt bedeutet mehr Anstrengung für Verteidigung, höhere Unsicherheitskosten für Rohstoffe und Energie, das Zerstören globalisierter Lieferketten, die Notwendigkeit von Bündnissen mit nicht-demokratischen Staaten und die Schablonisierung einer eigentlich komplizierteren Welt. Man sollte meinen, in Erinnerung dieser Errungenschaften von 1989 gingen heute Menschen auf die Straße, um für den Erhalt dieser Errungenschaften zu demonstrieren.
Wir müssen stärker betonen, warum die aktuellen Entscheidungen gerade auf europa- und bundespolitischer Ebene getroffen werden, um die Entwicklung, die 1989 und 1990 sowohl in Ost- als auch Westeuropa neben viel Transformationsschmerz vor allem auch Abrüstung, größere Reisefreiheiten und nationale Selbstbestimmung für unzählige europäische Bürger_innen, nun nicht enden zu lassen, nicht zurückzudrehen, sondern für die Zukunft abzusichern. Damit können wir in Zeiten der Systemrelevanz nicht nur zu einer stärkeren europäischen Geschlossenheit und Souveränität beitragen, sondern wir könnten im idealsten Fall sogar durch diese Krise katalysiert einen gehörig großen Schritt hin zu einer tatsächlich vollzogenen Wiedervereinigung und einer vertieften Partnerschaft mit unseren postsowjetischen Nachbarländern kommen.
4 Wir kommen am Ende nicht an einer ehrlichen Diskussion vorbei, was mittel- und langfristig die Perspektive für die Ukraine und das Verhältnis der europäischen Union zu Russland und Belarus sein kann. Dass diese Fehlstelle bislang nicht gefüllt ist – ohne damit andeuten zu wollen, dass diese einfach zu füllen wäre – erschwert die aktuellen Debatten enorm und führt immer wieder dazu, dass das öffentliche Anzweifeln von Sanktionen und Energieunabhängigkeit in Ostdeutschland teilweise nur über Umwege und nicht mit den stärksten Argumenten zurückgewiesen werden kann. Noch schwerer wiegt, dass diese Fehlstelle natürlich für die, die überzeugt werden müssten, der naheliegende Aufhänger ist, an dem man alle Zweifel und alles Unwohlsein an der aktuellen Haltung der Bundesregierung aufhängen kann.
Zuletzt hat der Bericht des Ost-Beauftragten gezeigt, dass die Zustimmung zur Demokratie zwar weiterhin in Ostdeutschland deutlich niedriger ist, aber insgesamt sowohl in West- als auch Ostdeutschland sinkt während parallel dazu die Umfragewerte rechter Parteien steigen. Das ist gerade in Zeiten der größten Krise seit 1945 eine verheerende Hypothek für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Stabilität unserer Demokratie. Was gerade stattzufinden scheint ist tatsächlich eine Annäherung von Ost- und Westdeutschland beim Thema Politikverdrossenheit, nur leider in die falsche Richtung. Wenn wir wollen, dass wir als Gesellschaft gut durch die kommenden Monate kommen, dann müssen wir anerkennen, dass ostdeutsche Probleme zu gesamtdeutschen Problemen werden können, wenn wir ihnen nicht endlich wirksam im gesamten Land und mit vereinten Kräften aus Ost- und Westdeutschland begegnen – nicht nur mit Entlastungspaketen.