dpa 04.05.2023
„Grüne werden tendenziell von Menschen gewählt, die an der Uni waren und Frauen sind. Und davon gibt es im Osten besonders wenige“, sagt Leipziger Grünen-Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta. Keine Region in Europa sei so überaltert wie Ostdeutschland, hinzu komme ein hoher Männerüberschuss und die Abwanderung von vier Millionen Menschen. „Das sind tendenziell die, die hier auch Grüne wählen würden.“
Doch dabei will Piechotta es nicht belassen, ebenso wenig wie ihre Vorgängerin als grüne Leipziger Bundestagsabgeordnete, Monika Lazar, die anmerkt: „Für unsere Verhältnisse sind wir in den letzten fünf, sechs Jahren gigantisch gewachsen, relativ sogar stärker als der Westen, und auch in Stadt und Land.“ Es lohne sich dafür zu kämpfen, dass Menschen wieder in den Osten zurückkehrten, sagt Piechotta. Überzeugungsarbeit mussten und müssen Ost-Grüne aber nicht nur bei ihren Wählern leisten, sondern auch bei Parteikollegen. Es war dort nicht anders als im ganzen Land: Man fand unter Mühen zusammen.
Wie bei vielen DDR-Bürgerrechtlern gab es bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der West-Grünen Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung. Die Bürgerrechtsbewegung war vielen westdeutschen Grünen suspekt, auch weil sie in Opposition zu einem sozialistischen Staat stand. Hinzu kam die Angst vor einem wieder erstarkenden, womöglich gewalttätigen deutschen Nationalismus. „Welche wichtige Herausforderung der Gegenwart vermag die Wiedervereinigung der beiden Deutschländer eigentlich zu lösen, die ohne sie nicht mindestens genauso gut, wenn nicht gar besser gelöst werden könnte?“, fragte Joschka Fischer im November 1989 rhetorisch.
Schon ein Jahr später stellte sich die Frage nicht mehr. Der Drang nach Veränderung und Öffnung in Ostdeutschland war überwältigend, am 3. Oktober 1990 trat die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik bei. Was dem Land der Einigungsvertrag, das ist Bündnis 90/Den Grünen der 1993 besiegelte „Assoziationsvertrag“. Die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, später Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, hat ihn mit ausgehandelt. Für die Mitglieder des aus der Bürgerrechtsbewegung hervorgegangenen Bündnis 90 galten Quoten für Parteigremien und übergangsweise Sonderrechte. „Wir waren zwar strukturell ziemlich präsent, gleichberechtigt“, erinnert sich Birthler. „Aber real spielten wir kaum eine Rolle.“
Das, was folgte, beschreibt die heute 75-Jährige als „keine sehr glückliche Zeit“ für sie. Birthler wurde 1993 erste Bundessprecherin, also Vorsitzende, der erweiterten Partei, gemeinsam mit dem Westdeutschen Ludger Volmer. „Wir waren vierfach quotiert; Bündnis 90/Grüne, Ost/West, Frau/Mann und die beiden Strömungen Realos und Fundis“. Birthler selbst gehörte in jeder dieser Kategorien zur Minderheit, „eine ziemlich hoffnungslose Position“. Bei gemeinsamen Pressegesprächen mit Volmer sei dieser „nach allem Möglichen“ gefragt worden. Bei ihr hingegen sei es immer um die Stasi, rechte Gewalt und Arbeitslosigkeit im Osten gegangen. „Wenn ich etwas über Hamburg oder das Saarland sagte, haben die mich immer angeguckt, als würde ich in einer fremden Wohnung die Schränke verschieben.“
Über die Grundlage des neuen Bündnisses sagt Birthler: „Wir hatten zwar ähnliche Themen, also Umwelt, Frieden und Menschenrechte. Aber kulturell waren wir doch ein ganzes Stück auseinander.“ Sie erinnert sich an ihren ersten Besuch im Hochhaus in Bonn, in dem die Grünen damals ihren Sitz hatten. „Da bin ich reingekommen, dachte „Wie diskutieren die denn hier?“ Ich fand das haarsträubend, diesen lauten, kämpferischen, auch gegnerischen Ton.“
Die ostdeutschen Bürgerrechtler hätten in der DDR zwangsläufig lernen müssen, zwischen den Zeilen zu lesen. „Und wir mussten auch wohl oder übel zusammenhalten, konnten uns große Auseinandersetzungen in der DDR gar nicht leisten, obwohl es durchaus verschiedene Meinungen gab, weil der gemeinsame Gegner einfach viel zu mächtig war.“ Der Kampf um ein Mandat sei ihnen fremd gewesen. „Wir kamen aus so einer Kultur des Gerufenwerdens. Dort wurde nicht gedrängelt.“ Es seien schlechte Karten gewesen für den späteren politischen Wettbewerb.
Die bescheidenen Wahlergebnisse ihrer Partei in Ostdeutschland in den 1990er Jahren erklärt Birthler mit einem mangelnden Nährboden für grüne Ideen. „Die Leute haben gesagt: Wir wollen bitteschön erst das Wirtschaftswunder und dann wählen wir Grüne.“ Massenweise hätten Betriebe geschlossen, Menschen wurden arbeitslos. „Die Stimmung war: Ist ja gut, dass die Grünen sich jetzt um gute Luft kümmern, aber wir wollen erstmal wieder, dass der Kessel dampft.“
In ihrer Zeit im Bundestag habe sie sich angewöhnt, in der Fraktion daran zu erinnern, „dass bestimmte Sachen bei uns noch eben speziell sind“, erzählt Lazar. „Ob es die Renten waren, Arbeitslosigkeit, die Strukturen im Bildungsbereich, die Polikliniken. Ich habe versucht, den Blick zu weiten auf den aktuellen ostdeutschen Alltag.“ Das sei die ersten zwanzig Jahre lang tabu gewesen.
„Nicht nur in unserer Partei musste man oft das eigene Ostdeutsch-Sein kaschieren, um mehrheitsfähig zu werden, egal ob Merkel oder Göring-Eckardt“, sagt Piechotta mit Blick auf die frühere Kanzlerin von der CDU und die langjährige Grünen-Fraktionsvorsitzende. Und am Ende gehe es bei den Grünen wie in anderen Parteien auch um nackte Zahlen. „Wenn du Spitzenkandidatin werden willst, dann wirst du das mit den Stimmen von NRW, Baden-Württemberg und Bayern, da bringt der Verweis auf die eigene Ost-Biografie nicht unbedingt Stimmen.“
Der Kampf um Aufmerksamkeit auch innerhalb der eigenen Partei geht für Piechotta weiter. „Bei der Bundestagswahl 2017 hatte die AfD in Sachsen mehr Stimmen als die CDU bekommen. Daraufhin haben auch Leute in der Bundespartei gesagt: Sachsen kannste abschreiben, es lohnt nicht, da noch irgendwelche Ressourcen reinzustecken. Da haben wir natürlich Angst bekommen.“ Ostdeutsche Grüne hätten sich daraufhin stärker abgesprochen, Posten reklamiert und Mittel für Landtagswahlkämpfe im Osten eingefordert. Piechotta sagt: „Wir gehen der Bundesgeschäftsstelle viel stärker auf die Nerven als vor sechs, sieben Jahren.“