Die Angst vor mehr Frauen in der Medizin
Wenn sich Zeitungen mit dem steigenden Frauenanteil in der Medizin beschäftigen, dann klingt das oft wie der Anfang vom Ende der westlichen Gesundheitssysteme:
“Frauen überschwemmen die Medizin — und das wird richtig teuer“, “Why having so many women doctors is hurting the NHS“, “Feminisierung in der Medizin: Kostenrisiko oder Qualitätschance?” und am dramatischsten: “Female doctors put NHS under ‘tremendous burden’ because they get married, have children and want to work part-time“.
“Bürde”, “Kostenrisiko”, sogar “Existenzgefährdung” der Gesundheitsversorgung – für all das sollen jene Frauen verantwortlich sein, die aktuell die Medizin “überschwemmen”. Schaut man sich die Zahlen an, klingt die Situation sofort weniger dramatisch: Von 100 MedizinstudentInnen sind aktuell ca. 60 Frauen, aber 40% immer noch männlich, und diese Zahlen sind seit über zehn Jahren nahezu konstant. Betrachtet man alle berufstätigen ÄrztInnen, dann sind aktuell 55% aller Praktizierenden männlich – es bedarf schon einiger Übertreibung, um bei einem Frauenanteil zwischen 45% insgesamt und 60% der AbsolventInnen von einer Überschwemmung zu sprechen.
Die Zahlen in Großbritannien sind ähnlich, die dortige Diskussion zum Thema ist jedoch noch hitziger und wurde maßgeblich befeuert durch einen Daily-Mail-Artikel des Chirurgen Meirion Thomas: “Warum derart viele Ärztinnen das nationale Gesundheitssystem schädigen“. In diesem stellt er folgende Thesen auf:
- Die Steigerung des Frauenanteils führe aufgrund von Teilzeit und Erziehungszeiten zu schwerwiegenden Engpässen der medizinischen Versorgung des britischen Gesundheitssystems NHS. Thomas geht jedoch an diesem Punkt nicht auf die Notwendigkeit besserer und flexiblerer Kinderbetreuung ein oder die steigenden Zahlen von männlichen Ärzten mit Wunsch nach Teilzeit und Erziehungsurlaub.
- Die häufige Teilzeittätigkeit von Ärztinnen senke die Rendite, die die SteuerzahlerInnen von ÄrztInnen eigentlich erwarten könnten, deren Studium von der Allgemeinheit finanziert wurde. Medizinstudienplätze sollten aus diesem Grund nur noch an jene BewerberInnen vergeben werden, die ihre “Schuld an die Gesellschaft voraussichtlich voll zurückzahlen”. Tatsächlich ist die Lebensarbeitszeit von Ärztinnen, aber auch Ärzten in Teilzeit meist geringer, jedoch wird auch keine ÄrztIn, die außerhalb des Krankenhauses in der Pharmaindustrie oder Versicherungswirtschaft arbeitet, gezwungen, ihre Ausbildungskosten an die Allgemeinheit zurückzuzahlen.
- Frauen würden anspruchsvollere Fachrichtungen wie Chirurgie meiden, in denen mehr persönliches Engagement notwendig sei und zögen stattdessen einfachere Fächer vor. Hier blendet der Autor aus, dass die Attraktivität bestimmter Fachrichtungen wie Chirurgie im Allgemeinen sinkt, sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen AbsolventInnen.
- Die vor allem von Frauen angestrebte Teilzeit gefährde die Kontinuität der Versorgung der/des einzelnen PatientIn. Zu diesem Punkt existieren keine überzeugenden Langzeituntersuchungen, die Kontinuität der Versorgung dürfte jedoch maßgeblicher durch Faktoren wie gutes Informationsmanagement in Praxen und Kliniken beeinflusst werden.
So weit, so einseitig. Dieser Text löste in Großbritannien eine große Protestwelle aus, doch die darin enthaltenen Thesen sind auch in Deutschlands medizinischer Community weit verbreitet, inklusive vieler konservativerer medizinischer Fakultäten: Zu oft beginnen Vorlesungen mit dem ernsten Blick des in neun von zehn Fällen männlichen Dozenten in seine ZuhörerInnenschaft, gefolgt von seinen immer gleichen Worten: “Sie sind die Zukunft der Medizin, nur Frauen – ach, da oben sitzt ein junger Kollege: Sie sind ja hier völlig in der Minderheit, aber sehr schön, dass Sie auch da sind.” Man sollte meinen, diese Erkenntnis müsste man nicht Jahr für Jahr, Woche für Woche, in immer gleicher Weise artikulieren, sodass sich manche Medizinstudentin irgendwann fragen mag, ob sie jetzt nur eine StudentIn zweiter Klasse sei. Je nach Fach wird das Ganze jedoch im Gegensatz noch getoppt durch Sätze wie “Ich will endlich mehr männliche Assistenzärzte in meiner Klinik, es ist ja schön dass sie so viele Frauen sind aber das ist ein echtes Problem: Frauen wollen ja alle nicht Chef werden, da gibt es sonst irgendwann gar keine Chefärzte mehr.”
Am häufigsten wird auch hierzulande die hohe Wahrscheinlichkeit von Ärztinnen kritisiert, in Teilzeit arbeiten zu wollen. Dabei wird jedoch verschwiegen, dass auch männliche Berufsanfänger sich von Jahr zu Jahr immer häufiger für eine Teilzeittätigkeit entscheiden und sich damit die durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten von Ärztinnen und Ärzten langsam angleichen. Dass Teilzeitarbeit die Organisation von ärztlicher Weiterbildung und der Versorgung von PatientInnen sowohl im Krankenhaus als auch ambulant zu Anpassungen zwingt ist unbestreitbar – für dieses “Problem” jedoch einseitig Frauen verantwortlich zu machen ist falsch und unfair – erst Recht angesichts der aktuell unzureichenden Kinderbetreuungangebote für ArbeitnehmerInnen mit Nachtschichten, wenig kalkulierbaren Überstunden und Wochenenddiensten.
Die möglichen positiven Seiten eines steigenden Frauenanteils in der Medizin werden hingegen in der Diskussion nahezu vollständig ausgeblendet: Frauen zeigen eine höhere Wahrscheinlichkeit, in Positionen und Disziplinen der ambulanten Versorgung zu arbeiten, die weniger gut vergütet sind und sie sind häufiger bereit, in schlecht versorgten Gebieten zu praktizieren, auch wenn sie dabei Städte dem ländlichen Raum vorziehen (und sich in diesem Punkt nicht von ihren männlichen Kollegen unterscheiden). Darüberhinaus nehmen sie sich unter anderem signifikant mehr Zeit für PatientInnen und zeigen eine patientenzentriertere Kommunikation. Dies alles sind Eigenschaften, die angesichts des ÄrztInnenmangels v.a. in der Allgemeinmedizin nicht zu unterschätzen sind.
Genauso selten wie die möglichen Vorteile eines steigenden Frauenanteils in der Medizin werden die Nachteile dargestellt, denen junge Ärztinnen in nach wie vor männerdominierten Fachdisziplinien begegnen: Ca. 37% aller Ärztinnen an US-amerikanischen Universitätskliniken berichteten sexuelle Belästigung, jedoch nur 3% aller Ärzte, wobei die Zahlen umso höher sind, umso niedriger die jeweilige Qualifikationsstufe der Ärztin ist. Frank et al. führen dies vor allem auf die enorme Bedeutung von Hierarchie in der Medizin, speziell der Chirurgie zurück:
“Present thought characterizes sexual harassment as primarily a manifestation of power, rather than sexual attraction. The profession of medicine, particularly in academic settings, may be especially prone to harassment because of the importance of hierarchy. This may account for the higher prevalence of harassment found in training environments in our data and the somewhat lower prevalence experienced among women physicians once they are in practice, in a typically higher place in the hierarchy. This also may be a reason that women in surgery and emergency medicine reported a higher prevalence of harassment, as these fields may particularly tolerate or even value hierarchy and authority.”
Da sexuelle Belästigung bereits Medizinstudentinnen in unterschiedlichem Ausmaß während ihrer Ausbildung begegnet, mögen die unterschiedlich erlebte Wahrscheinlichkeit sexueller Übergriffe und einer eher frauenfeindlichen Atmosphäre nicht nur in vielen chirurgischen Abteilungen einen bislang unterschätzten Einfluss auf die Wahl der Fachdisziplin haben, sondern könnten eventuell auch für die höheren Abbruchquoten in der Facharztausbildung mitverantwortlich sein.
Festzuhalten bleibt, dass sich viele ChefärztInnen und KlinikleiterInnen dramatisierend gegen den steigenden Anteil von Ärztinnen zu wehren versuchen und diesen für einen Großteil der Probleme in der Gesundheitsversorgung verantwortlich machen. Dies ist jedoch weder durch Fakten begründbar noch zielführend. Der Anteil männlicher Mediziner wird sich langfristig wahrscheinlich bis auf weiteres bei rund 40% stabilisieren, bis dahin werden jedoch noch viele Jahre vergehen, in denen Männer die Medizin dominieren – weil sie immer noch die Mehrzahl aller ÄrztInnen stellen und nahezu 90% aller Leitungspositionen inne haben. Genau aber weil sie diese Leitungspositionen heute inne haben sollten sie jetzt statt Panik zu schüren Strategien entwickeln, wie sie Teilzeit intelligent umsetzen, wie sie Vollzeitstellen für ihre Angestellten wieder attraktiver gestalten können und wie frauenfeindliche Arbeitsumfelder aufgebrochen werden können. Manche von ihnen arbeiten ja tatsächlich genau daran, und denen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.