Biggi Bender hat zur aktuellen Debatte um die Masernausbrüche in Berlin, NRW und Bayern einen Gastbeitrag im Ärzteblatt verfasst. In einem früheren Text haben wir die Argumente für eine Impfpflicht aus grüner Perspektive zusammengefasst, hier möchten wir noch einmal konkret auf die Schwächen in Biggis Positionierung eingehen und haben ihre Argumentation einem kleinen Faktencheck unterzogen:
“Wir haben in Deutschland aus guten Gründen keine Impfpflicht, selbst bei Infektionskrankheiten mit zum Teil schwerwiegenden Verläufen. Das Selbstbestimmungsrecht hat Vorrang […]. Außerdem käme eine Impfpflicht für den aktuellen Masernausbruch zu spät.”
Ihr erstes Argument gegen verpflichtende Impfungen ist, dass diese “für den aktuellen Masernausbruch” zu spät kämen. Mit Verlaub, dieser und viele andere Masernausbrüche in den letzten zehn Jahren wären mit höheren Durchimpfungsraten extrem unwahrscheinlich gewesen, und ohne eine wie auch immer erzielte Erhöhung der Impfraten werden weitere Masernausbrüche in Deutschland folgen.
“Die Impfquoten (zweimalige Impfung) sind bei den einzuschulenden Kindern zwischen 2000 und 2010 von 19 auf immerhin 92 Prozent gestiegen.”
Es ist richtig, dass die Zahlen zu den Impfraten der Grundschulkinder deutschlandweit langsam ansteigen, dass es insbesondere einen erfreulichen Zuwachs bei der zweiten Masern-Impfung zu verzeichnen gibt. Was hier jedoch verschwiegen wird sind die deutlichen Unterschiede zwischen den Bundesländern mit einer sehr zufriedenstellenden Impfrate der ErstklässlerInnen in Mecklenburg-Vorpommern und unterdurchschnittlichen Raten bei den beiden Schlusslichtern Sachsen und Baden-Würtemberg – dem Bundesland, in dem Biggi Benders Wahlkreis zur nächsten Bundestagswahl liegt (siehe Epidemiologischer Bulletin des Robert-Koch-Insitutes 16/2013).
Die punktuellen Ausbrüche aktuell in Berlin und Bayern, aber auch derzeit an einer Schule in NRW mit einer Impfrate von nur 25% zeigen, dass deutschlandweiten Zahlen nur bedingt aussagekräftig sind. Darüberhinaus steigt zwar langsam die Impfrate der Schulkinder (wenn auch in vielen Bundesländern unter den erforderlichen 93 – 95%), dies erlaubt jedoch nur wenige Rückschlüsse auf die Impfraten der Gesamtbevölkerung.
“Eine sachliche Aufklärung über die individuellen und epidemiologischen Vorteile einer Impfung (ohne Vernachlässigung der möglichen Nebenwirkungen) wird also zu einer weiter steigenden Impfbereitschaft führen – das sollte einer gewissen politischen Gelassenheit das Wort reden. […] Das Gegenteil von Vertrauen, nämlich Misstrauen und eine sinkende Impfbereitschaft, bewirken Forderungen nach einer Impfpflicht […].”
Weiter schreibt Biggi, dass mehr Aufklärung automatisch zu einer höheren Impfrate führen würde und aus diesem Grund “politische Gelassenheit” angezeigt sei.
In Großbritannien wurde die Impfpflicht ähnlich wie in Deutschland Mitte des 20. Jahrhunderts abgeschafft, mit Einbruch der Impfraten wurden dort aber anders als hier aufwendige und teure Informationskampagnen und Prämien für HausärztInnen eingeführt. Salmon et al. führten 2006 aus, dass die USA und Australien mit ihren verpflichtenden Impfprogrammen gleichwertige Impfraten bei wesentlich geringeren Kosten erzielen konnten als das UK. Während das UK trotz Kampagnen eine langsam sinkende Impffrequenz beobachtet, konnte Australien seit 1998 mit Einführung quasi verpflichtender Impfungen die Impfrate von 75% auf 94% erhöhen. Somit ist Biggis Aussage, eine Impfpflicht führe zu sinkenden Impfraten, wenig nachvollziehbar.
“Schließlich ist – neben möglichen akuten Nebenwirkungen – nach wie vor ungeklärt, welche Auswirkungen Impfungen langfristig auf die organismuseigene Immunregulation haben.”
Am Ende des Textes nennt sie noch die “ungeklärten Langzeitfolgen auf die organismuseigene Immunregulation”. Es gibt eine große Anzahl von Studien zur Effektivität und Nebenwirkungen bspw. der Masernimpfungen und eine diesbezügliche Cochrane-Analyse. Es ist richtig, dass man nie alles ausschließen kann. Was wir hingegen schon wissen: Die Risiken einer Erkrankung mit fatalem Ausgang sind um eine Vielfaches höher als das Risiko eines Impfschadens. Und: Die Pocken hätten wahrscheinlich nicht erfolgreich ausgerottet werden können, wenn für sie keine Impfpflicht bestanden hätte.
Kann jemand bitte noch auf den Punkt “Das Selbstbestimmungsrecht hat Vorrang […]” eingehen bzw. diese Abwägung eine Prüfung unterziehen ?
Das haben wir im anderen Post zu Impfungen getan – die Frage Selbstbestimmung vs. Impfpflicht ist eben nur Abwägung, kein falscher Fakt an sich; )
http://gruenegesundheitspolitik.wordpress.com/2013/07/09/impfen-eine-frage-der-solidaritat/