Ist das Gesundheitssystem noch anfälliger für Korruption und Co. als andere Wirtschaftssektoren? Die Antwortet lautet: Ja. Doch warum ist das so?

Es gibt kaum einen Wirtschaftsbereich, in dem man so schlecht planen kann wie in Krankenhaus und Praxis. Wer weiß schon, ob im nächsten Jahr eine neue Grippewelle ausbricht und man deswegen 100 neue Krankenhausbetten braucht? Oder ob das Gesundheitsministerium schon wieder die Kostenerstattung ändern lässt?

Die Summe der Unsicherheiten führt dazu, dass betriebswirtschaftliche Planung nur teilweise möglich ist, und das man gewisse Ineffizienzen in Kauf nehmen muss – also beispielsweise ein paar mehr Betten als unbedingt nötig vorhalten, falls es im Winter plötzlich ganz viele Oberschenkelbrüche gibt. Sozusagen das Gegenmodell zur Deutschen Bahn. Das ist wichtig. Aber nicht effizient. Das Ganze ist gleichzusetzen mit einem teilweisen Marktversagen und da, wo der Markt zusammenbricht, wo Planung unmöglich gemacht wird, versucht man Sicherheit über andere Mechanismen, zum Beispiel Absprachen herzustellen…

Außerdem ist es fast einmalig, wie asymmetrisch die Informationen im Bereich Gesundheit verteilt sind. WelcheR PatientIn, und da spreche ich noch nicht einmal vom bewusstlosen IntensivpatientInnen, kann die Qualität des/der ihm gegenübersitzenden Arztes tatsächlich beurteilen? Oder gar die Sinnhaftigkeit des nächsten Herzkatheters? Und welcheR ÄrztIn kannte tatsächlich alle Studiendaten des Herstellers von Paroxetin, bevor er es verschrieb?

Für Staubsauger, Altersvorsorge und Autos gibt es Stiftung Warentest und den ADAC. Für medizinische Behandlung – gibt es nur „den Arzt oder Apotheker Ihres Vertrauens“. Keine wirklich zufriedenstellende Alternative, und keine, die PatientInnen eine tatsächlich freie, informierte Wahl ermöglicht. Auch das führt zu Ineffizienzen: Denn nur wenn die Qualität eines Produktes/einer Behandlung/eines Antidepressivums bekannt, kann es sich gegen schlechtere durchsetzen. Aber so…

Drittens ist das Gesundheitswesen: Einfach zu komplex.

Umso mehr Akteure an einem Geschäft beteiligt sind, umso mehr Interaktionen sind potentiell möglich. Und umso mehr Interaktionen es gibt, umso mehr mögliche Schnittstellen entstehen, an denen Fehlverhalten möglich wird, und umso schwieriger wird es beispielsweise für die Staatsanwaltschaft, diese Verfehlungen aufzudecken. Das Bundeskriminalamt sagt derzeit selbst, dass sie keine Kompetenz besitzen, um Delikte im Gesundheitsbereich zu ahnden. Ideale Voraussetzungen also für Korruption und Co.

Auf welche Art schaden die einzelnen Akteure dem Gesundheitssystem?

Die Versicherten

Fangen wir bei jenen an, bei denen man es am wenigsten vermutet: Ja, auch ein Teil der Versicherten schadet bewusst dem Gesundheitssystem. Die meisten, indem sie ihre wahren Einkommensverhältnisse verschleiern, und schlicht zu wenig Krankenkassenbeitrag zahlen. Viele, indem sie Krankheiten vortäuschen. Andere verkaufen Rezepte gegen Geld oder „verleihen“ ihre Chipkarten.

Indirekt aber auch alle ArbeitgeberInnen, die schwarz arbeiten lassen oder Beiträge hinterziehen.

Die AnbieterInnen

Dazu gehören alle ÄrztInnen, ApothekerInnen, Krankenhäuser, …

Die häufigste Form des Fehlverhaltens ist hier die Überversorgung. Nicht nur bei PrivatpatientInnen getreu dem Motto „Jeder Private, der zur Tür hereinkommt, ist ein Blankoscheck“, sondern auch bei gesetzlich Versicherten. In Deutschland werden bei viel zu vielen PatientInnen nicht indizierte Leistungen erbracht. Beispielsweise ist die Zahl an Herzkathetern in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bei gleicher Morbidität und Mortalität kardiovaskulärer Erkrankungen unverhältnismäßig hoch1.

Gegenüber den Krankenkassen werden nach wie vor viele Leistungen falsch abgerechnet – die Kassen selbst haben jedoch nur begrenzte Möglichkeiten, Abrechnungen zu überprüfen. Mancher Chefarzt spricht sogar davon, „bei soviel Patienten mehr zu kodieren, dass die Krankenkassen mit ihren Überprüfungen gar nicht mehr hinterherkommen.“

Aber auch Unterversorgung ist ein Problem, nicht nur bei der Hausärztin am Ende des Quartals. Auch wenn Kliniken einen Patienten nicht verlegen, der eigentlich in einer anderen Abteilung behandelt werden müsste, weil er schlicht und ergreifend sehr gut vergütet wird, stellt das Unterversorgung dar.

Eine weitere, leider häufige Form des Missbrauchs von Position sind Gewinnbeteiligungen der ÄrztInnen an Medizinprodukten – in den Neunzigern war es der deutschlandweite Herzklappenskandal23, in den alle universitären Herzchirurgien in Deutschland verwickelt waren und in dessen Rahmen die Mediziner pro verwendeter Medtronic®-Herzklappe mit ca. 1000 Euro vergütet wurden.

Typisch auch der Fall des Orthopäden Prof. Venbrooks, ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Orthopädie am Universitätsklinikum Jena: Er musste aus dem Amt scheiden, nachdem er wegen Bestechlichkeit verurteilt worden war. Er hatte mit seiner Ehefrau jahrelang die Implantate eines Herstellers bevorzugt verwendet und dafür von diesem Honorare erhalten4.

Ein wichtiger weiterer Punkt sind die Organe der Selbstverwaltung. So schaffen es die Ärztekammern, eigentlich zuständig für die ärztliche Weiterbildung, in vielen Regionen nicht mehr, firmenunabhängige Weiterbildungen anzubieten. Für die dort praktizierenden ÄrztInnen existieren somit gar keine unabhängigen Alternativen mehr.

Die Kassen

Auch die Kassen sind nicht immer unschuldig. Am plausiblesten dürfte es noch erscheinen, dass sie in wenigen Fällen Leistungen verweigern, die indiziert, aber kostenintensiv sind. Weniger bekannt aber dürfte sein, dass die Kassen teilweise auch Kopfprämien an ÄrztInnen zahlen für als chronisch Kranke diagnostizierte Versicherte, da sie für diese mehr Mittel aus dem Risikostrukturausgleich der Krankenkassen beziehen können5.

Die öffentlichen Behörden

Sie spielen vor allem eine Rolle, wenn sie ihren Aufgaben nicht in dem Maße nachkommen, wie sie dies eigentlich sollten. Erwähnt wurde in diesem Zusammenhang bereits das BKA, aber auch Institute wie das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) kann gar nicht alle Aufgaben zeitnah erfüllen, die eigentlich in seinem Zuständigkeitsbereich lägen.

Die Hersteller

Kommen wir zum längsten Kapitel: Die Hersteller von Medizintechnik und Pharmaka.

1) Sie enthalten Informationen vor (auch als Publication Bias bezeichnet) und veröffentlichten in vielen Fällen nur jene Studiendaten, in denen die therapeutische Wirksamkeit ihres neuesten Produktes signifikant war.

2) Die Firmen beeinflussen sogenannte „Opinion Leaders“ – angesehene ÄrztInnen ihres Fachgebiets, die beispielsweise an der Leitlinienerstellung mitwirken.

3) Sie bieten den ÄrztInnen Gewinnbeteiligungen an, wenn diese ihre Produkte verwenden (siehe Herzklappenskandal).

4) Sie geben ethisch bedenkliche Studien in Auftrag, sei es, weil diese in einer Weise konzipiert sind, dass keine neuen Erkenntnisse gewonnen werden können, oder dass sie beispielsweise neue Substanzen nicht gegeüber der derzeitigen Standardtherapie, sondern lediglich gegenüber Placebo testen, da dann geringere Patientenzahlen für signifikante Ergebnisse notwendig sind.

5) Sie werben direkt beim Endverbraucher für verschreibungspflichtige Medikamente, obwohl dies in Deutschland verboten ist. Beispielhaft dafür waren Schaufensterkampagnen in deutschen Apotheken zum Thema „Zappelphilipp“, die Familien ansprechen sollten und den Druck auf die verschreibenden ÄrztInnen durch Mütter und Väter erhöhen sollte.

6) Außerdem werden wissenschaftliche Verlage beeinflusst, die von ihren Anzeigenkunden abhängig sind. Ein drastisches Beispiel dafür war der Thieme-Verlag6. Die Augustausgabe 2006 der „Zeitschrift für Allgemeinmedizin“ wurde komplett eingestampft, nachdem im Juni der erste Teil der Artikelserie „Informationen zur rationalen Arzneimitteltherapie in der ärztlichen Praxis“ erschienen war und die Nicht-Überlegenheit von Sartanen betonte. In der Augustausgabe sollte ursprünglich der zweite Teil zu Protonenpumpenhemmern erscheinen. Nachdem Sartan-Hersteller Anzeigen aus anderen Zeitschriften abzogen, entschied sich der Verlag, die Augustausgabe einzustampfen, und ohne den problematischen Artikel neu zu drucken.

7) Die Generika-Hersteller fielen jahrelang dadurch auf, dass sie bei den Niedergelassenen kostenlose Praxissoftware verteilten, die bei der Erstellung von Rezepten automatisch die Präparate des jeweiligen Herstellers auswählten, und das aut-idem-Feld inaktivierten, dass es dem Apotheker erlaubt, eine anderes, wirkstoffgleiches Präparat abzugeben. Diese Beeinflussung musste letztlich im Rahmen des Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetzes 2006 verboten werden – die Umsetzung zog sich aber über Jahre hin.

Warum aber ist das alles so schlimm? Warum wäre es wichtig, Korruption, Betrug, Missbrauch und Verschwendung viel stärker zu bekämpfen, als das bislang geschieht?

Weil es das Wohl der Patienten gefährdet. Weil Medizin schon heute viel besser sein könnte, wenn alle Patienten nach den besten wissenschaftlichen Daten behandelt würden. Und weil das Geld, das im Gesundheitssystem verschwendet wird, für Forschung und Bildung und andere wichtige gesellschaftliche Aufgaben fehlt.

1 Dissmann, Wolfgang, und Michael de Ridder. “The soft science of German cardiology.” The Lancet 359, no. 9322 (Juni 8, 2002): 2027-2029.

2 “Herzklappenskandal – Nachrichten DIE WELT – WELT ONLINE.” http://www.welt.de/print-welt/article530332/Herzklappenskandal.html.

3 “Herzklappenskandal: Saftige Geldstrafe für Herzchirurgen – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Panorama.” http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,125271,00.html.

4 “FREIES WORT | Bestechlicher Professor gibt seinen Lehrstuhl auf.” http://www.freies-wort.de/nachrichten/thueringen/seite2thueringenfw/art2437,1316526.

5 “Transparenzmängel, Korruption und Betrug
im deutschen Gesundheitswesen –
Kontrolle und Prävention als gesellschaftliche Aufgabe
Grundsatzpapier von Transparency Deutschland. Juni 2008 – 5. Auflage.”

6 “Unerwünschte Kritik – Vorauseilende Zensur – Leben & Stil – sueddeutsche.de.” http://www.sueddeutsche.de/leben/unerwuenschte-kritik-vorauseilende-zensur-1.927398.

7 Wazana, Ashley. “Physicians and the Pharmaceutical Industry.” JAMA: The Journal of the American Medical Association 283, no. 3 (Januar 19, 2000): 373 -380.

8 Chren, Mary-Margaret, und C. Seth Landefeld. “Physicians’ Behavior and Their Interactions With Drug Companies.” JAMA: The Journal of the American Medical Association 271, no. 9 (März 2, 1994): 684 -689.