Unsere primäre Aufgabe als Partei ist nicht Selbstvergewisserung oder unser eigenes Wachstum.
Unsere primäre Aufgabe ist Dienst an der Gesellschaft, ist das Aufspüren von gesellschaftlichen Problemen, neuen Lebensformen und deren Einspeisung in den großen Strudel des politischen Diskurses. Wenn sich jetzt gesellschaftliche Subgruppen immer stärker ausdifferenzieren, wenn einige sich in ihren Milieus einhegen und die Sprechfähigkeit gegenüber anderen Gruppen verlieren, dürfen wir als Partei diesen Gang in die Nische nicht mitgehen: Wir müssen die verschiedensten Bürgerinnen* dieses Landes in der gesamtgesellschaftlichen Arena zusammenbringen, sie zum Hören der anderen zwingen. Dafür müssen wir als Partei auch Hafen sein für Menschen der unterschiedlichsten Herkünfte, Lebensformen und mit den unterschiedlichsten Ansprüchen an Beteiligung. Eine trittfeste Parteien- und Parteiendemokratie gibt es nur, wenn wir dem Menschen aus Dessau und dem aus Sylt die belastbare Gewissheit geben, dass sie beide gleichberechtigte und gleich gewichtige Entscheiderinnen* in der Debatte sind, wie sich diese Gesellschaft weiterentwickeln wird.
Wenn unsere Gesellschaft kleinteiliger und ausdifferenzierter wird, müssen in gleichem Maße unsere Anknüpfungsstellen für die Menschen inner- und außerhalb von GRÜN zahlreicher und facettenreicher werden. Einerseits, weil wir den Input all dieser Submilieus und ihrer jeweils eigenen Sicht auf die Welt brauchen, um gesellschaftliche Realität zu verstehen und neue Entwicklungen zu erkennen. Andererseits aber auch, weil aus all diesen Nischen Menschen nach Akteurinnen* in der Politik suchen, mit denen sie sich identifizieren können, denen sie zutrauen, einen Zugang zu ihrer eigenen Lebensrealität zu besitzen.
Wie aber schafft man diversifizierte, neue Anknüpfungspunkte?
Nicht nur, aber auch durch mehr grüne Beteiligungsräume. Wir müssen es ermöglichen, dass sich alle, die dies wollen, sinnstiftend in dieser Partei einbringen und Gehör verschaffen können, auch wenn sie nur wenig Zeit aufbringen und keine räumliche Verfügbarkeit garantieren können. Für sie müssen wir neue, räumlich unabhängige Partizipationskanäle bereit halten, die gleichberechtigt und wirksam die allgemeine Partei-Debatte beeinflussen können. Letztlich erkennt dies auch den Kommunikationswandel an: Als Gesellschaft schreiben und sprechen wir heute auf anderen Wegen und in schnelleren Taktungen miteinander als noch vor zehn Jahren. Diesen Weg zu mehr Beschleunigung und Verbreiterung von Diskurs gehen wir mit, damit unsere internen Debatten Schritt halten können mit dem, was diese Gesellschaft bewegt.
Es gibt noch einen weiteren Grund für die notwendige Aufspreitung unserer Beteiligungs- und Entscheidungsformate: Je mehr sich die Arbeitswelt beschleunigt und räumlich beliebiger wird, je schneller in vielen Ballungszentren Mieten in vormals unvorstellbare Höhen steigen, umso öfter ist das grüne Mitglied eines, dass alle drei Jahre umziehen muss und in keinem Kreisverband heimisch wird. Diesen, unseren räumlich unsteten Mitglieder stellen sich heute viele Hindernisse in den Weg, wenn sie sich parteipolitisch engagieren wollen – man engagiert sich selten in einem Kreisverband, den man schon bald verlassen wird. Viele bleiben passive Mitglieder, die alle vier Jahre einen Urwahl-Zettel ankreuzen. Wir laufen Gefahr, diese steigende Zahl an Menschen unter unseren Mitgliedern in der Zeit zwischen den Urwahlen nicht ausreichend abzubilden und damit wichtige Impulse und Lebenswelten zu verpassen. Wir schlagen damit das enorme Potential aus, dass diese Menschen bei GRÜN einbringen könnten. Auch diesen Menschen sollten wir mehr Raum bei Grün geben.
In der Folge kann man hoffen, dass durch eine sich öffnende, neue Breite in unserer Partei auch unser thematisches Innovationspotential steigt: Während wir in unseren Gründungsjahren der Ort waren, den neue gesellschaftliche Bewegungen ganz selbstverständlich als ihre Schnittstelle in die Parlamente hinein wählten, hätten wir in den letzten zehn Jahren viele Themen wie Netzpolitik noch früher erkennen können. Denn wer neue Themen erst relativ spät für sich bearbeitet, später als der politische Gegner, dem fällt es schwerer mit neuen Lösungsansätzen voranzugehen. Er verliert die Möglichkeit, gesellschaftliche Debatten als zukunftsorientierter Erster vorzudenken und zu prägen. Ansatzweise wurde die mangelnde inhaltliche Innovationsfähigkeit 2013 deutlich: In der Krise nach der Bundestagswahl befiel uns eine noch immer nicht bis in den letzten Winkel aufgelöste Sprachlosigkeit, eine Unfähigkeit, auf neue inhaltliche Vorwürfe schnell und intelligent Antworten zu finden. In unserer derart eingeschränkten thematischen Schöpfungskraft und Reaktionsfähigkeit wurden wir monatelang vorgeführt.
Um unseren eigenen Mitgliedern und der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gerecht zu werden, um unseren Horizont, Weitblick und unsere Reaktionsfähigkeit in Krisen zu stärken und neue Selbstverständlichkeiten der Kommunikation in dieser Gesellschaft abzuholen müssen wir unsere Debattenschauplätze und Entscheidungskanäle aufweiten. Deswegen müssen wir unserer inneren Mechanik als Partei mit Mitteln der Online-Beteiligung neue Räume auftun. Wir müssen einen noch diverseren inhaltlichen Input aufnehmen und diskursiv bewältigen, wir sollten Entscheidungen zu großen Teilen auf breitere demokratischen Basen stellen. Denn wenn wir unsere Rolle als Partei ernst nehmen, dann dürfen wir nicht dabei zusehen, wie eine zunehmende Ausdifferenzierung und räumliche Flexibilität von Gesellschaft sich ganz automatisch in eine schwindende Legitimation von Parteien übersetzt.
Auf der BDK in Münster wird den Delegierten ein erster vorsichtiger Aufschlag für mehr Online-Abstimmungen und Mitgliederbegehren vorgelegt werden: Wir sollten ihn annehmen.