Von Klima- bis Coronapolitik: Wir brauchen faktenbasiertere Entscheidungen in der Politik

Wir stehen vor enormen Aufgaben in den kommenden Jahren: Wir müssen die Klimakrise abwenden, die Corona-Pandemie beenden, viele globale Konflikte befrieden und das Artensterben stoppen, um nur vier der größten Herausforderungen zu nennen. Corona- und Klimakrise zeigen uns jeden Tag, dass wir diesen Aufgaben dann als Gesellschaft am wirksamsten begegnen können, wenn wir eine gute wissenschaftliche Faktenbasis und eine starke Forschung haben, die uns mit Daten und neuen Technologien unterstützt. Das heißt auch anzuerkennen, dass Wissenschaft sich immer weiterentwickelt, Erkenntnisse auch revidiert werden müssen und Wissenschaft natürlich Politik nicht ersetzen kann und soll.

Denn die Wissenschaft sucht heute nach den Zusammenhängen, auf deren Grundlage wir als Gesellschaft morgen überhaupt erst informiert entscheiden können – nur dank der Grundlagenforschung an Coronaviren konnten wir 2020 schnell einen Virustest einführen, nur dank der Klimaforschung wissen wir, wie schnell wir unseren CO2-Ausstoß als Weltgesellschaft mindern müssen und auch für morgen gilt: Die Fragen der Zukunft sind ohne wissenschaftliche Grundlagen nicht beherrschbar.

Wir sehen aktuell bei uns und in vielen anderen Ländern, wie sehr postfaktische Parteien und Verschwörungs-Erzählungen Gesellschaften instabil werden lassen und in der Krisenbewältigung zurückwerfen. Egal ob Impfgegner_innen oder Klima-Leugner_innen: Lasst uns in den nächsten Jahren stärker die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungs-Erzählungen stoppen. Denn nur eine Gesellschaft, in der die Mehrheit grundlegende wissenschaftliche Fakten anerkennt ist in der Lage, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern.

Aus einem aufgeklärteren Verhältnis zur Wissenschaft kann übrigens auch ein höherer Anspruch an Wissenschaft entstehen. Wenn wir noch stärker als heute wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage gesellschaftlicher Weichenstellungen begreifen, dann sinkt auch unsere Toleranz für wissenschaftlichen Betrug und methodisch schlechte Forschung – denn politische Entscheidungen auf der Basis von „Fake Facts“ bedrohen auch immer die Nachhaltigkeit gesellschaftlicher Richtungsentscheide.

Unsere Demokratien durchlaufen gerade eine groß angelegte Reifeprüfung, deren Ausgang noch nicht entschieden ist: Wenn wir wollen, dass die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte fortgeschrieben und verbessert werden können, dann brauchen wir dafür auch ein belastbareres Verhältnis zur Wissenschaft.

Wofür setze ich mich konkret ein?

  • eine solide wissenschaftliche Datenbasis für alle politischen Entscheidungen, von Klimapolitik über Corona- und Gesundheitspolitik bis zur Landwirtschaftspolitik
  • ein noch engerer Austausch zwischen Wissenschaft und Politik und ein verbessertes Wissenschafts-Verständnis darüber, wie Wissenschaft funktioniert, bei politischen Entscheider_innen
  • konsequente Eindämmung in der Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungs-Erzählungen durch Medien und Messenger-Dienste
  • eine Förderung besserer Wissenschafts-Kommunikation vor allem durch die Behörden, die dafür heute schon zuständig sind, beispielsweise das Robert-Koch-Institut

 

Wer weiterlesen mag: Den folgenden Text haben Till Westermayer und ich 2018 auf gruene.de veröffentlicht um neue Anstöße für das jetzt beschlossene neue Grüne Grundsatzprogramm zu geben – damit waren wir ziemlich erfolgreich und das neue Grüne Grundsatzprogramm stellt auf vielen Seiten dar, warum Wissenschaft für unsere Gesellschaft von elementarer Bedeutung ist!

 

Vom schwierigen Verhältnis zwischen Grün und Wissenschaft

20. Juni 2018, Dr. Paula Louise Piechotta & Till Westermayer

Auf den ersten Blick denkt man: Grüne und Wissenschaftlichkeit - wo ist das Problem? Grüne laufen mit beim March for Science, wir geben Pressemitteilungen zur Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit heraus und laden Wissenschaftler_innen zu unseren Bundesdelegiertenkonferenzen ein. Im Gespräch mit Wissenschaftler_innen merkt man aber sehr schnell, dass unser Verhältnis zu Forschung und Forscher_innen kein ganz unkompliziertes ist: Zwar haben viele Wissenschaftler_innen eine grundlegende Sympathie für einige Ansätze unserer Politik. Ökologische Fragen sind vielen wichtig, ebenso unser liberales und emanzipatorisches Gesellschaftsbild, unsere Vorstellung einer beteiligungsorientierten Politik. Bald taucht dann jedoch ein großes Aber auf - denn noch immer erscheinen wir als technikfeindlich: Grüne seien die, die in Talkshows die "Schulmedizin" verteufeln und öffentlich gegen Impfungen agieren. Ein fundiertes Verständnis dafür, wie wichtig Wissenschaftsfreiheit ist, wie Wissenschaft funktioniert, eine fakten-basierte Politik - das wird uns Grünen oft nicht zugetraut. Als wissenschaftlich denkender Mensch bei Grün kann man nicht alle diese Punkte leicht entkräften. Die Zerrbilder von den "Technikfeinden" aus den 1980er Jahren, die auch damals schon wenig passend waren, stimmen heute erst recht nicht mehr. Trotzdem ist der Bezug auf Fakten und Evidenzen - außerhalb des engen Feldes der Wissenschaftspolitik - in unserer Partei immer noch etwas, das nicht in jedem Themenfeld widerspruchsfrei gelebt wird.

Das manchmal dissonante Verhältnis zur Wissenschaft wird an vielen inhaltlichen Fragen sichtbar: Wenn es um Klimaschutz und Erderhitzung geht oder um Armutsforschung, dann sind wir als Grüne sehr nah dran an der wissenschaftlichen Community - wir laden Forscher_innen zu unseren Parteitagen ein, wir verweisen auf ihre Papiere in unseren Beschlüssen und wir schelten die politische Rechte für ihre auf "fake news" basierende Ablehnung aller klimapolitischen Maßnahmen. Aber wir neigen zur Rosinenpickerei: Wir fordern als Grüne Wissenschaftlichkeit gerne in den Themenfeldern ein, in denen sie uns selbst zupass kommt - und in anderen nicht. Das ist ein Kritikpunkt sowohl unserer politischen Gegner_innen als auch der wissenschaftlichen Community.

Zu unserem schwierigen Verhältnis zur Wissenschaftlichkeit gehört, dass wir bestimmte Themenfelder als Partei regelrecht tabuisieren. Etwas spöttisch zugespitzt: alles mit Atomen oder Genen ist uns nicht ganz geheuer. Da endet das Plädoyer für Forschungsfreiheit sehr schnell. Wir kommen aber nicht an der Wissenschaft vorbei, wenn wir wirklich eine nachhaltigere Zukunft erreichen wollen: Auch für einen sicheren Ausstieg aus der Atomenergie und für die Bewältigung der Endlagerproblematik braucht es auf absehbare Zeit gut ausgebildete Expert_innen, das heißt: weiterhin Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Kerntechnik. Oder, um ein anderes Beispiel zu wählen: ITER, das große internationale Kernfusionsforschungsprojekt, lässt sich forschungspolitisch - mit Blick auf Kostensteigerungen und organisatorische Fragen - ebenso wie energiepolitisch durchaus kritisieren. Die Frage ist allerdings, warum in grünen Wahlprogrammen immer wieder ITER als pauschales Beispiel für Schwächen der europäischen Forschungspolitik herhalten muss - und wie sich das mit der Forderung nach freier Grundlagenwissenschaft verträgt. Auch der große Beschleuniger am CERN oder die bemannte Raumstation ISS sind teuer, trotzdem rufen wir als Grüne nicht nach einem Ausstieg.

Oder werfen wir einen Blick auf das jüngste Beispiel: die vom Bundesvorstand angestoßene Debatte zur Gentechnik in der Landwirtschaft im Kontext neuer ökologischer Herausforderungen und neuer gentechnischer Verfahren. Fast schon reflexhaft erklärten führende Agrarpolitiker_innen unserer Partei sofort, dass es unnötig und falsch sei, diese Debatte überhaupt zu führen. Während gentechnische Verfahren im Labor mehr oder weniger zähneknirschend inzwischen auch grüne Akzeptanz finden, erscheint allein der Versuch, einmal zu überprüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen neue Entwicklungen in der Agrogentechnik neue grüne Antworten erfordern, als Frevel. Was aber sind wir für eine Partei, wenn wir selbst die Debatte zu neuen gesellschaftlichen Entwicklungen schon nicht zulassen?

Jenseits dieser Tabus sind Grüne eine neugierige, an Wissenschaft interessierte Partei, die sich kontinuierlich weiterentwickelt. Längst sind die Warnung vor den Gesundheitsgefährdungen durch öffentliche WLANs oder die Unterstützung von Impfgegner_innen nicht mehr grüner Mainstream. Die von "alternativer Wissenschaft" Überzeugten werden immer weniger, sie sind längst nicht mehr die dominante Stimme. Ein Beispiel: 2013 noch warnte die zuständige grüne Bundestagsabgeordnete von den „ungeklärten langfristigen Auswirkungen“ von Impfungen, aber bereits 2015 warben Mitglieder des grünen Bundesvorstands mit Sharepics gemeinsam für eine breite Akzeptanz des Impfschutzes.

Wir rufen dazu auf, diese Entwicklung weiter zu führen, hin zu einem aufgeklärteren grünen Verhältnis zur Wissenschaft: Denn eine Partei, die sich in ihrer Programmatik nicht selbst widersprechen möchte, sollte in allen Themenfeldern ein enges und kritisches Verhältnis zur Wissenschaft haben. Sie sollte ihre eigenen Positionierungen auf ein belastbares Fundament wissenschaftlicher Fakten stellen können, auch um glaubwürdig den rechten Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit entgegentreten zu können. Wenn wir das schaffen, dann tragen wir auch dazu bei, unsere internen Debatten zu versachlichen.

Wir sind überzeugt davon, dass dieser Weg unabdingbar ist. Denn wir sehen einer Zukunft entgegen, die sich in vielen Bereichen sehr schnell und radikal ändern wird: Die künftigen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen zwischen technologie-assistierter Fortpflanzung und Bioethik, automatisiertem Fahren, künstlicher Intelligenz und digitaler Selbstbestimmung werden uns als Partei viel abverlangen. Wir können diesen Fragen aber besser und schneller begegnen, wenn wir das auf der Grundlage eines belastbaren Verhältnisses zur Wissenschaft tun.

Für unser grünes Verständnis von Wissenschaft hieße das, eine konsistente Orientierung am wissenschaftlichen Stand des Wissens, an Fakten und Evidenzen vorzunehmen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer einen Zwischenstand darstellt, der kontinuierlich überprüft und erweitert wird. Insofern ist einer Orientierung an Wissenschaftlichkeit die Kritik inhärent. Wir wollen nicht jedem wissenschaftlichen Trend nachrennen, und es heißt auch nicht, eins zu eins jede Verlautbarung aus "der Wissenschaft" unkritisch zu übernehmen.

Wir glauben, dass ein konsistenteres Verhältnis der Grünen zur Wissenschaft die Partei stärker machen kann. Eine solche Grundhaltung kann und darf jedoch nicht von oben übergestülpt werden: Nachhaltig wird dieser Prozess nur, wenn wir durch mehr Debatte und mehr kritische Fragen unser eigenes Verhältnis zur Wissenschaft aufrollen, unsere eigenen Widersprüche aufdecken und Wege finden, diese zu heilen - hin zu einer noch aufgeklärteren und inhaltlich stärkeren Partei.

 

 

 

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