Oft ist es in den letzten Tagen formuliert worden: Die Corona-Situation im Freistaat ist aktuell leider mehr als schlecht. Die jetzt diskutierten Maßnahmen für wirkungsvollere Infektionsschutz-Maßnahmen ab der kommenden Woche sind wahrscheinlich in Teilen geeignet, die Zahl der Infektionen zu senken und damit auch unglaublich großes Leid für Patient_innen, ihre Familien und viele Beschäftigte im Gesundheitswesen zu verhindern. Gleichzeitig gilt auch: Die Schicksale aller Menschen, die in den kommenden Wochen von den nun angeordneten Maßnahmen erneut hart getroffen werden, schmerzen trotz der Notwendigkeit nun angepasster Maßnahmen stark: Wenn Eltern wieder Kinder zuhause betreuen sollen, obwohl sie arbeiten müssen; wenn Kindern und Jugendlichen eine „häusliche Lernzeit“ angeordnet wird, obwohl sie zu Hause keine idealen Lernbedingungen vorfinden; wenn Menschen erneut in ihrer Existenz gefährdet werden; wenn Patient_innen nicht operiert werden können, obwohl sie seit Wochen auf eine Operation warten: Das tut vor allem auch weh, weil man leider davon ausgehen kann, dass sie mit einem bestmöglichen Corona-Management in ihrem Ausmaß hätten besser dosiert werden können. Niemand behauptet, dass das einfach gewesen wäre. Aber allein die immensen gesellschaftlichen Negativ-Folgen, die die aktuelle Situation und die deswegen als notwendig erachteten Gegenmaßnahmen wieder auslösen, hätten eigentlich Grund genug sein müssen, alles dafür zu tun, damit genau diese Situation nicht eintritt.
Ein paar Punkte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, was wir als sächsische Gesellschaft spätestens jetzt bezüglich unseres Umganges mit der Corona-Pandemie lernen sollten:
1. Es mag viele Gründe geben, warum manche jetzt den „Blick nach vorn“ betonen wollen, nicht auf Fehler zurückschauen wollen, die in den vergangenen Wochen im sächsischen Corona-Management gemacht wurden. Aber eine gründliche Fehler-Analyse ist mindestens genauso wichtig wie der Blick nach vorn: Denn wenn wir die erheblichen Fehler auf den verschiedenen Ebenen abstellen, die für die aktuelle Situation mitverantwortlich sind, dann verbessern wir potentiell die Qualität unseres Corona-Managements für die kommenden Monate. Dazu gehören stärker aufgestellte Gesundheitsämter, eine bessere Sichtbarkeit der Entscheidungen der sächsischen Landräte, eine fundierte, transparente und multidisziplinäre wissenschaftliche Beratung aller politischen Entscheider_innen und ein besserer Schutz der Risikogruppen. Auch bei der Pandemie-Reaktion gilt darüber hinaus das, was wir aus anderen Kontexten bereits gut wissen: Diversere, mit unterschiedlichen Perspektiven versehene Teams finden zu besseren Lösungen als relativ homogen besetzte Gruppen.
2. Verlässlichere Zahlen: Wir müssen leider von einer erheblichen Dunkelziffer an Infektionen in der sächsischen Bevölkerung ausgehen. Wenn in manchen Test-Einrichtungen ein Anteil positiver Tests von knapp 20% erreicht wird, dann spricht das neben vielen anderen Hinweisen aus Studien leider dafür, dass eine hohe Zahl an Infektionen in Sachsen momentan überhaupt nicht erfasst wird. Vor diesem Hintergrund braucht es einerseits, und das haben Grüne bereits im Frühjahr gefordert, ein stärkeres Bemühen um verlässlichere Zahlen zum Gesamt-Infektionsgeschehen und wir müssen ehrlicher kommunizieren, dass die momentan kommunizierten Infektions-Zahlen die aktuelle Lage nur unvollständig abbilden.
3. Es ist für Abgeordnete im sächsischen Landtag, für Vertreter_innen der Öffentlichkeit und die Mitglieder der Staatsregierung nahezu unmöglich, angesichts wöchentlich neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und veränderter Infektionslagen in Sachsen und seinen Nachbarregionen von Tschechien bis Thüringen immer auf dem aktuellen Stand zu sein, wenn sie dabei nicht transparent und multidisziplinär wissenschaftlich beraten werden. Wissenschaftliche Beratung darf nicht das Privileg einiger weniger sein, und sie darf auch nicht unter Ausblenden vieler relevanter Fachdisziplinen stattfinden wenn wir erreichen wollen, dass die politischen Entscheidungen in diesem Land und die damit verbundene öffentliche Meinungsbildung erfolgen können auf der Basis einer fundierten, multidisziplinären und kontinuierlich aktualisierten wissenschaftlichen Beratung. Ein Pandemie-Rat, wie Grüne ihn bspw. auf Bundesebene fordern, kann hier einen erheblichen Beitrag hin zu einer besseren wissenschaftlichen Entscheidungsgrundlage und einer weiterhin notwendigen verbesserten Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Nebenwirkungen von Infektionsschutz-Maßnahmen sein. Ein solcher wissenschaftlicher Pandemie-Rat kann auch eher in der Lage sein als politische Akteur_innen, unerwartete relevante Einflussfaktoren wie veränderte Infektions-Situationen in Nachbar-Regionen zeitnah zu detektieren und notwendige Schutzmaßnahmen abzuleiten.
4. Wenn die Eindämmung des Infektions-Geschehens unter anderem daran scheitert, dass ein Teil der Gesellschaft die Empfehlungen zum Infektionsschutz nicht umsetzt und diese Empfehlungen nicht durchgesetzt werden können, dann hilft es mit hoher Wahrscheinlichkeit nur teilweise, wenn die Regelungen für den Bevölkerungs-Anteil, der sich ohnehin an Empfehlungen hält, immer weiter verschärft werden mit zunehmend erheblichen gesellschaftlichen Nebenwirkungen, das Problem der schlechten Akzeptanz in den gesellschaftlichen Gruppen mit besonders riskantem Kontaktverhalten aber nicht ähnlich konsequent angegangen wird. Außerdem gilt weiterhin, dass insbesondere auch bei einer großen Zahl an nicht detektierten Infektionen in der Gesamtbevölkerung gezielte Maßnahmen zum Schutz der Risiko-Bevölkerung unumgänglich sind – nicht nur, aber auch, weil u.a. Ausbrüche in Pflege-Einrichtungen leider weiterhin ganz erheblich zur angespannten Situation in den Kliniken beitragen. Beispiele, wie man Schutzkonzepte für Menschen mit erhöhtem Risiko für schwere Erkrankungsformen auch als Kommune bestmöglich erreichen kann liegen vor.