“There is a good chance that a whole lot of what we are doing is causing more harm than good.”

Steven Hoffman

Vielleicht erinnern sich manche noch an das Frühjahr, die ersten Wochen der Covid-19-Pandemie, als die ganze Welt sich zurecht mal wieder aufregte über Trump: Obwohl in den USA bereits eine relevante Ausbreitung des Covid-19-Erregers zu verzeichnen war, gab Trump an, die Ausbreitung des Virus primär mit einem Einreisestopp einhegen zu wollen. Vielfach wurde damals erklärt, warum eine solche Maßnahme wenig Aussicht auf Erfolg verspricht, wenn das Virus bereits im Land verteilt ist; dass ein Einreisestopp als Mittel der Infektionskontrolle nur dann Sinn macht, wenn man ihn sehr früh verhängt oder aber mit sehr hoher Sicherheit nahezu keine aktiven Infektionen im eigenen Land vermutet. Diese Erklärung stieß auf breites Verständnis, denn sie war einleuchtend, auch die WHO sprach sich gegen Grenzschließungen aus und, nicht zu vergessen, es war schließlich Trump. Jetzt, ein knappes dreiviertel Jahr später, rufen selbst in Deutschland progressive Menschen angesichts einer eventuell relevanten Covid-19-Variante nach schnellen Grenzschließungen, obwohl deren Ausbreitung bereits in zahlreichen anderen Ländern dokumentiert ist. Wie konnte es soweit kommen?

Noch im Frühsommer herrschte in Europa große Einigkeit, dass die im März erfolgten unabgesprochenen, schlecht organisierten Grenzschließungen im Schengen-Raum kein zweites Mal erfolgen dürften – nicht nur, weil zum Zeitpunkt der Einführung schon multiple Infektionsgeschehen in ganz Europa zu verzeichnen waren, sondern weil sie neben unendlichen LKW-Staus beispielsweise auch dazu führten, dass die Gesundheitsversorgung in manchen grenznahen Gebieten übermäßig gefährdet wurde: Das war beispielsweise an der tschechisch-sächsischen Grenze der Fall, wo zahlreiche Pflegeheime und Kliniken ohne tschechische Grenzpendler_innen kaum arbeitsfähig sind. Diese Erfahrungen waren einer der Gründe, warum auch die tschechisch-deutsche Grenze im Herbst trotz rasant steigender Infektionszahlen in Tschechien für lange Zeit offen gehalten wurde, auch noch als das Nachbarland leider vorübergehend zum europäischen Corona-Hotspot wurde. Was man aber nicht verstehen kann: Warum im Oktober eben diese Grenzpendler_innen aus tschechischen Hochinzidenz-Gemeinden, die in besonders sensiblen Bereichen wie Pflegeheimen arbeiten, nicht regelhaften Testungen unterzogen wurden, obwohl beispielsweise in Bayern regelmäßige Tests für Grenzpendler_innen durchgeführt wurden. Man kann auch nicht verstehen, warum Reisebusse mit tschechischen Tagestourist_innen nach Sachsen fuhren, um hier in Restaurants zu essen, während diese in Tschechien bereits geschlossen waren. Das geschah, obwohl das gemeinsame Essen in Innenräumen durchaus zur Infektionsverbreitung beitragen kann, wahrscheinlicher als beispielsweise das Tanken auf der anderen Seite der Grenze.

Statt mit derart zielgerichteten, mutmaßlich relevanteren Interventionen reagierte man in Sachsen sehr spät, als die Infektionszahlen in den grenznahen sächsischen Landkreisen bereits explodiert waren. Man reagierte aber selbst zu diesem Zeitpunkt nicht mit zielgerichteten Maßnahmen, sondern mit pauschalen Grenzschließungen. Dabei bleibt unklar, welchen Sinn Grenzschließungen machen sollen in einer Situation, in der sich Covid-19-Infektionen bereits flächig u.a. im Erzgebirgskreis und der Lausitz ausgebreitet hatten. Die Begründung für diese Entscheidung wird wahrscheinlich das Geheimnis der politischen Entscheider_innen bleiben. Alle, die jetzt retrospektiv angesichts der sehr hohen Covid-Infektionsraten in Tschechien und in Polen insbesondere im Oktober zu dem Schluss kommen, man hätte diese Maßnahme einfach nur früher durchsetzen müssen, „die Grenze einfach mal schnell dicht machen“, sollten zumindest hinterfragen, ob dies tatsächlich einen relevanten Unterschied hätte machen können angesichts zahlreicher Grenzpendler_innen (für die auch aktuell die Grenze weiterhin durchlässig bleibt): Die aktuell verfügbaren Daten sprechen dafür, dass nur sehr schnelle, extrem frühe Grenzschließungen dazu beitragen können, Ausbreitungswellen zu verlangsamen, dass sie zu späteren Zeitpunkten aber eher wirkungslos sein dürften und bedeutende negative Nebenfolgen haben können, insbesondere das Risiko, dass gleichzeitig wirkungsvollere Maßnahmen aus politischer Opportunität unterbleiben und die isolierten Länder und Regionen dadurch einseitig enorme wirtschaftliche Lasten tragen müssen.

Zuletzt hat kurz vor Weihnachten eine mutierte Covid-19-Variante erneut zu spontanen Grenzschließungen gegenüber Großbritannien geführt, obwohl sie bereits mehrfach außerhalb des Vereinten Königreichs nachgewiesen wurde und vermutlich auch zielgerichtetere Mittel wie Quarantäne und Test-Verpflichtung als Mittel hätten eingesetzt werden können. Vor dem Hintergrund des mehr als fragwürdigen Nutzens ist es zumindest beruhigend, dass diese erneute Grenzschließung von zahlreichen Ländern relativ schnell durch eine mutmaßlich sinnvollere obligate Covid-19-Testung vor Reiseantritt ersetzt wurde.

Die Grenzschließungen sind eins von mehreren Beispielen, wie in der aktuellen Pandemie-Situation entschlossenes politisches Handeln mit teils enormen negativen gesellschaftlichen Nebenfolgen demonstriert wird, obwohl der Nutzen angesichts der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage fraglich ist. Grenzschließungen in späteren Stadien der Infektionsausbreitung sind primär die öffentlichkeitswirksame Simulation tiefgreifender, vermeintlich effektiver Maßnahmen – der Söder des Frühjahrs 2020 hätte sie wahrscheinlich als „beherzt“ bezeichnet – die bei genauerem Hinsehen aber nichts als politische Eingeständnisse der Ohnmacht sind (und teilweise auch Ausdruck eines immer noch erschreckend nationalen Denkens großer Teile der politischen Entscheider_innen).

Der Zweck heiligt aber nur Mittel, die zweckmäßig sind. Überall dort, wo unter Verweis auf vermeintlichen Infektionsschutz Maßnahmen beschlossen und durchgesetzt werden, die weniger Nutzen als negative gesellschaftliche Folgewirkungen aufweisen, werden die Durchhaltbarkeit und Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung potentiell beschädigt. Deswegen ist das Argumentieren gegen beispielsweise späte Grenzschließungen kein „übertriebener Liberalismus“, sondern Schadensbegrenzung und der Versuch, die Chance auf eine mittel- und langfristig erfolgreiche Pandemie-Bewältigung gemeinsam mit der Bevölkerung zu erhalten. Denn diese Pandemie bewältigt man nur mit der Bevölkerung, nicht gegen sie, das muss man angesichts von Aussagen zum “autoritären Staat” und “hartem Durchgreifen” wahrscheinlich jetzt noch deutlicher ins Gedächtnis rufen als im Frühjahr. Wo immer wir Maßnahmen erkennen, die nicht geeignet sind, das Infektionsgeschehen angemessen zu reduzieren, müssen wir sie ansprechen und verhindern, um langfristig die vielen negativen Gesundheitsschäden sowohl durch die Pandemie selbst als auch die gesundheitlichen Nebenwirkungen der Infektionsschutz-Maßnahmen zu minimieren.

Wer weiterlesen möchte:

1) Eine wissenschaftliche Auswertung zu den bisherigen Datenerhebungen zum Erfolg von Grenzschließungen in der Infektionsprävention in der Version, in der sie zur wissenschaftlichen Begutachtung eingereicht wurde (mit vielen Hinweisen darauf, dass die aktuelle Datenlage noch deutlich ausbaufähig ist):

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.11.23.20236703v1

2) Ein Kommentar in der Wissenschaftszeitung Nature zur Sinnhaftigkeit von Grenzschließungen in der Prävention der Covid-19-Ausbreitung: https://www.nature.com/articles/d41586-020-03605-6

3) Ein Artikel der New York Times mit einer vorläufigen Bewertung der Sinnhaftigkeit von Grenzschließungen angesichts einer eventuell relevanten neuen Covid-19-Variante: https://www.nytimes.com/2020/12/22/world/europe/travel-bans-coronavirus-variants.html?smtyp=cur&smid=tw-nytimes