Man kann viele Sünden zählen in den vergangenen Monaten Pandemiepolitik. Die neueste, auf die sich seit kurzem alle einigen können: Es war ein Fehler, dass initial durch viele deutsche Politiker_innen Impfpflichten in der Covid19-Pandemie ausgeschlossen werden. Und das stimmt. Wir sollten uns aber vielleicht noch einmal in den Herbst 2020 zurückversetzen, um zu verstehen, warum damals so viele der Meinung waren, sie müssten eine Impfpflicht gut hörbar ausschließen. Einerseits, das ist in den letzten Tagen öfter gesagt worden, ging damals die Fachöffentlichkeit davon aus, dass angesichts des mäßigen Ansteckungspotentials durch den Covid19-Wildtyp Impfquoten um die 70% ausreichen würden. Andererseits, und dieser Aspekt geht in der aktuellen Debatte oft etwas unter, war zu diesem Zeitpunkt noch unklar, wie gut Wirksamkeit und Verträglichkeit der Impfstoffe unter realen Bedingungen sein würden. Der Ausschluss der Impfpflicht durch politische Entscheidungsträger_innen erfolgte in den meisten Fällen, um Ängste in der Bevölkerung gegenüber den neuen, unbekannten Impfstoffen ab- und gleichzeitig Vertrauen aufzubauen.

Es entbehrt nicht einer großen Tragik, dass genau diese Motive jetzt ins Gegenteil verkehrt werden, dass dieser Ausschluss von Impfpflichten jetzt, wo er zurückgenommen werden muss angesichts einer komplett veränderten Gesamtsituation, genau das Vertrauen in (Corona-)Politik beschädigen kann, dass er eigentlich befördern sollte.

Was wir jetzt daraus im zweiten Jahr der Pandemie lernen können: Wir müssen es endlich schaffen, in verschiedenen Szenarien zu denken: Ja, es gab gute Gründe anzunehmen, dass eine Impfquote von knapp 70% ausreichen würde und die Impfstoffe viele Nebenwirkungen haben könnten. Es gab aber eben auch das Szenario, dass man eine Impfquote deutlich über 95% brauchen könnte – und dieses Szenario wurde vor einem Jahr hierzulande in der politischen Debatte nicht ausreichend mitgedacht.

Ähnliches erleben wir aktuell mit der Frage, ob es nach der 3. Covid19-Impfung weitere Auffrischungsimpfungen, ggf. sogar regelmäßige brauchen wird wie bei Tetanus oder Grippeschutzimpfung, oder aber ob im Regelfall drei Impfungen reichen werden wie beispielsweise bei FSME. Im Moment können wir das noch nicht wissen. Während sich jetzt viele in der öffentlichen Debatte schon darauf einschießen, dass wir in Zukunft alle sechs Monate die gesamte Bevölkerung mit Wiederholungs-Impfungen auffrischen müssen und die dafür notwendigen Impf-Zentren anmahnen sollten wir nach eineinhalb Jahren endlich schlauer sein: Wir müssen auch hier in Szenarien denken. Abhängig davon, wie die Daten dazu in wenigen Monaten aussehen werden kann es sein, dass wir tatsächlich immer wieder regelmäßige Auffrischungsimpfungen für Covid19 brauchen – oder aber eben nicht. Auf beides (und noch viele andere denkbare Szenarien) müssen wir politisch vorbereitet sein. Der große Fehler der vergangenen Monate, in denen sich die öffentliche und politische Debatte oft auf ein Szenario verständigte, sich für dieses vorbereitete und dann bei Eintreten eines Alternativ-Szenarios komplett unvorbereitet beispielsweise Booster-Impfungen verstolperte – diesen grundsätzlichen Web-Fehler der durch Zeitknappheit und stärkste emotionale Belastungen geprägten deutschen Corona-Politik müssen wir endlich hinter uns lassen.

Dazu gehört auch, in der aktuellen Impfpflicht-Debatte darüber nachzudenken, welche Szenarien eintreten könnten, in denen eine Impfpflicht ggf. nicht mehr vertretbar wäre. Das wäre aus meiner Sicht beispielsweise dann der Fall, wenn bald zusätzlich zu den aktuell verfügbaren aufwendigen Antikörper-Therapien auch einfacher zu verabreichende und nebenwirkungsarme Medikamente in Tablettenform verfügbar werden, die zuverlässig bei Infizierten einen schweren Verlauf und Krankenhaus-Aufenthalte verhindern können: In diesem Fall könnte man eine Impfpflicht wahrscheinlich deutlich weniger gut begründen als heute. Und dieses Szenario sollten wir zumindest mitdenken.