Ich denke in diesen Tagen oft an die Landtagswahl 2019 zurück. Damals, als wir dachten, noch existentieller könne sich eine Situation in Sachsen nicht anfühlen. Als viele davon ausgingen, dass sie aus Sachsen wegziehen müssten, wenn die AfD hier stärkste Partei werden würde.
Wie wir alle vor allem auch deswegen zur Wahl gingen, damit Sachsen demokratisch regierbar bleibt und wir hier wohnen bleiben können. Und wie wir gleichzeitig für das kämpften, was wir hier so lieben: unsere Lieblings-Stadtteile mit Freiräumen, unsere üppige Kulturszene, unsere zähe Zivilgesellschaft, kurz: unser anderes, beschützenswertes Sachsen.
Damals hat sich kaum jemand vorgestellt, dass diese existenzielle Situation noch um eine weitere Ebene ergänzt werden würde. Aber seit nahezu zwei Jahren erleben wir nun die Pandemie im Freistaat. Und wir sehen, dass die Probleme, die wir alle hier in Sachsen kennen – rechtsextreme Strukturen, Reichsbürger/-innen, Abwanderung und Überalterung, niedriges Vertrauen in Politik & Institutionen – sich inzwischen nicht mehr nur politisch bedrohlich, sondern nun auch noch für unzählige Menschen in Sachsen enorm gesundheitsgefährdend auswirken.
Je ansteckender die jeweils aktuelle Corona-Variante, umso mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt in Form von hohen Impfraten und Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen brauchen wir, um als Gesellschaft unser Funktionieren sichern zu können.
Ich gebe zu, als Ärztin ist es besonders eindrücklich, dass Änderungen von einzelnen Aminosäuren des Coronavirus auf molekularer Ebene, wie wir sie bei den COVID-Mutationen sehen, die Anforderungen an den Zusammenhalt einer ganzen Gesellschaft Stück für Stück hochschrauben; wie Biologie auf kleinster Ebene Politik im großen Maßstab erzwingt.
Wären für das ursprüngliche Coronavirus noch Impfraten von knapp 70 Prozent vielleicht ausreichend gewesen, um eine weitere Ausbreitung einzudämmen, so nähern wir uns jetzt mit jeder Mutation, die die Ansteckungsrate erhöht, immer mehr den 100 Prozent an. Mit jeder neuen (relevanten) Mutation steigen damit die Anforderungen an den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Wir sehen bei uns in Sachsen, dass die mangelnde Impfbereitschaft in vielen Regionen korreliert mit der Zustimmung zu demokratiefeindlichen Parteien. Wir sehen, dass rechtsextreme Strukturen gezielt auch die Verbreitung von Falschinformationen über Impfungen befördern, damit eine anhaltende Pandemie das Vertrauen in Politik und Wissenschaft weiter untergraben kann.
Damit kann man den großen Bogen aufspannen, der die Defizite im Kampf gegen Rechtsextremismus in den Jahren der DDR bis heute nun als eine der Ursachen für eine besonders schlechte Corona-Situation im Freistaat erkennt. Man kann nicht sagen, dass man nicht schon 2019 mehr als ausreichende Gründe hatte, um für ein anderes Sachsen zu kämpfen. Aber mit Corona ist definitiv eine weitere Ebene von Begründung hinzugekommen.
Ich träume von einer Gesellschaft, in der die absolut überwiegende Mehrheit wieder Vertrauen hat in Institutionen, auch politische. In der man Impfungen annimmt, Wissenschaft verstehen will und Verschwörungstheorien kraftvoll im Keim erstickt werden. Eine Gesellschaft, in der einem nicht von politischem Engagement abgeraten wird und in der man nicht dafür bedroht wird, sondern in der politisch aktiv sein das normalste der Welt ist, wenn man ein konkretes Problem lösen will.
Eine Gesellschaft, in der die neuen Siedlungen im ländlichen Raum nicht von rechten Siedlern, sondern von stadtmüden Familien bevölkert werden. Eine Gesellschaft, in die man gern zuzieht, egal woher man kommt und wie man spricht oder aussieht, weil viele hinziehen und weil man vor Ort freundlich aufgenommen wird. Eine Gesellschaft, in der man im Bundestag nicht mehr so oft den Satz hört „Und das machen wir jetzt wegen Sachsen.“ Vielleicht bin ich beratungsresistent, aber ich träume mal wieder von einem anderen Sachsen.