Wenn man nichts erwartet, dann kann man auch nicht enttäuscht werden. Vielleicht sollte das das Motto sein, unter dem man die gesundheitspolitischen Möglichkeiten eines grün-gelb-schwarz-blauen Bündnisses umreißt. Für durchgreifende Systemwechsel wie die Bürger_innenversicherung ist die Koalition zu breit aufgespannt, für hart ausgehandelte Kompromisse ist das Thema Gesundheit in Deutschland zu wenig wahlentscheidend. Unterschätzt man aber damit vielleicht nicht doch, was in diesem Zweckbündnis möglich sein kann? Im Folgenden eine kurzer Abriss der gesundheitspolitischen Themenfelder, in denen signifikante Bewegungen in den Verhandlungen der nächsten Wochen möglich sind:

Das Wichtigste zum Anfang: Welchen Beitrag kann Gesundheitspolitik zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten, der ja als große Klammer diese neue Koalition zusammenhalten und ihr Sinn geben soll?

Wir verlieren uns in der Gesundheitspolitik oft im Klein-Klein von Landesbasisfallwerten und qualitätsadjustierten Lebensjahren – und wundern uns dann, dass sich in Deutschland niemand für Gesundheitspolitik interessiert. Der aktuelle Zustand dieser Gesellschaft mit ihren Bruchlinien, ihrem Hass und ihrer Ratlosigkeit aber muss vielleicht auch für uns Anlass sein, greifbarer über das zu sprechen, was Gesundheitspolitik ausmacht: Gesundheitsversorgung, das ist das belastbare Vertrauen auf schnelle Hilfe in der Not und das Lindern unaushaltbarer Schmerzen. Ein Gefühl von Sicherheit, dass man aufgefangen wird, wenn es einem körperlich und seelisch schlecht geht. Genau deswegen treffen die Verunsicherungen so tief, wenn Frauen das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Schwangerschaft allein gelassen werden, weil in der Zeitung steht, dass es keine Hebammen mehr gibt. Deswegen wiegt die Qual so schwer, wenn Menschen Monate auf eine psychotherapeutische Behandlung warten müssen und nicht wissen, wie sie diese Zeit überstehen sollen. Deswegen ist es demütigend, wenn man mit seinen unbändigen Rückenschmerzen drei Monate auf einen MRT-Termin warten soll und weiß, dass das für Privatpatient_innen noch am gleichen Tag möglich ist.

Das heißt ganz und gar nicht, dass die Lösung in mehr MRT-Untersuchungen für alle besteht. Aber wir als Menschen in Gesundheitssystem und -politik müssen besser erklären, wie wir Gesundheitsversorgung sicher machen, was sinnvoll ist und was aber auch nicht hilft. Wir müssen das Vertrauen wieder aufbauen, dass die Gleichwertigkeit der Versorgung in armen und in reichen Regionen Deutschlands, in ländlichen Räumen wie in der Stadt wieder hergestellt wird. Wir werden in den nächsten Jahren vor der Herausforderung stehen, dass wir weiter aufwendige Behandlungen in Zentren konzentrieren müssen, um bessere Qualität für unserer Patient_innen zu erreichen – das können wir aber nur, wenn wir glaubhaft versichern, dass dabei die Rettungswege beschleunigt werden und die medizinische Grundversorgung weiterhin vor Ort ansprechbar und erfahrbar sein wird – auch mit Gemeindeschwestern, ambulanten Palliativteams und Telesprechstunden. Wir müssen die Gesetzmäßigkeit durchbrechen, dass Regionen, die fast keine Privatpatient_innen vorzuweisen haben, automatisch mit weniger niedergelassenen Fachärzt_innen leben müssen und sich damit als Regionen zweiter Klasse fühlen. Zweiklassenmedzin – so sinnlos die Zusatzleistungen der Privaten Krankenversicherung auch zum überwiegenden Teil sind – ist immer eine potentielle Demütigungserfahrung von Patient_innen. Genau das anzugehen wird Aufgabe dieser Koalition sein, wenn sie die Fliehkräfte in dieser Gesellschaft in einem ihrer Entstehungsimpulse anpacken möchte – und wenn sie nicht an dieser, ihrer größten Aufgabe scheitern will.

Wer wird Gesundheitsminister_in?

Schon nach der letzten Bundestagswahl weigerte sich Ursula von der Leyen mit Händen und Füßen, ins Gesundheitsministerium wechseln zu müssen. Viel hat sich in Deutschland geändert seit 2013, aber das Gesundheitsressort ist weiterhin das unbeliebteste Ministerium von allen: Allein deswegen dürfte es bei der Union hängen bleiben. Somit ist es gar nicht unwahrscheinlich, dass Gröhes Wunsch nach einem Verbleib im Ministerium erfüllt wird – es sei denn, die CSU möchte in Ermangelung anderer Ministerien ihr Profil in der Pflege schärfen oder aber das Kabinett soll insgesamt weiblicher werden.

Wie weiter mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen?

Hier dürfen wir alle viel mehr und weniger sinnvollen Hokuspokus erwarten: Ähnlich wie im grün-schwarzen Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg ist Digitalisierung eines der wenigen gemeinsamen, konfliktarmen Themen dieser Koalition, und so wird man auch hier Tatendrang formulieren, um den unspektakulären kleinsten Nennern in vielen anderen Themenfeldern etwas entgegensetzen zu können. Die Ideen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen sind in allen Parteien relativ stark fortgeschritten, für die grüne Seite existiert beispielsweise ein detailliertes Papier von Gesundheits- und Netzpolitiker_innen der alten Bundestagsfraktion. Kurz zusammengefasst kann man hoffen, dass der Digitalisierung, die in den letzten Jahren in den Mühlen der Selbstverwaltung fast schon vollständig erstickte, durch die politische Seite nun endlich Druck gemacht wird.

Cannabis

Die Legalisierung wird kommen, als gemeinsame Forderung von Grün und FDP, wahrscheinlich versehen mit unsinnigen bürokratischen Auflagen, damit die Union ihr Gesicht wahren kann. Wir sollten uns schon jetzt Gedanken machen, a) wie wir das gebührend feiern können und b) wie wir als linke Parteien den Wegfall von Cannabis als politisierendes Thema für viele junge Menschen zukünftig ausgleichen wollen;)

Versandhandel mit Medikamenten

Ein Thema, das – spannenderweise im Gegensatz zu Cannabis – in der gesundheitspolitischen Fachpresse in den letzten Wochen mit höchster Intensität bearbeitet wurde: der Versandhandel mit Medikamenten. Auch hier stehen Grüne und FDP mit ihrer Forderung nach Liberalisierung des Apothekenmarktes der vehement ablehnenden Union gegenüber. Eine mögliche Kompromisslösung könnte die Freigabe des Versandhandels, jedoch kombiniert mit Sicherstellungszuschlägen für Apotheken im ländlichen Raum sein. Anschließend dürfte das Unions-geführte Gesundheitsminiterium mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das Thema auf die lange Bank schieben.

Bürger_innenversicherung

Nur die Grünen wollen sie, und damit wird man hier, wenn überhaupt, nur minimalste themenverwandte Forderungen durchsetzen können: Nach Andeutung von Strack-Zimmermann könnte dies die Abschaffung der GKV-Zusatzbeiträge sein und damit die Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung der GKV durch Arbeitgeber und -nehmer. Das wäre tatsächlich gar nicht so wenig. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2017/10/17/gkv-finanzierung-fdp-naehert-sich-den-gruenen-an

Wie geht es weiter mit Gröhes Fokus auf bessere Ausfinanzierung der Pflege?

Alle vier Parteien haben sich für eine Stärkung und größere Wertschätzung der Pflege ausgesprochen: Damit dürfte in diesem Punkt tatsächlich eine Weiterentwicklung im Koalitionsvertrag festgeschrieben werden – beispielsweise in Form von Prüfaufträgen für die verbindlichen Pflegeschlüssel. Abhängig von den Kostenpunkten in den anderen Politikfeldern könnte eventuell sogar eine verbesserte Ausfinanzierung der Tarifsteigerungen in den Kliniken verabredet werden.

Hebammen

So wie auf dem Papier alle vier Parteien die Pflege stärken wollen, so wollen sie natürlich auch alle die Hebammenversorgung sichern. Im Gegensatz zur Pflege sind die konkreten Lösungsvorschläge hier jedoch sehr vage: Union und FDP haben keine einzige konkrete Maßnahme zur Sicherung der wirtschaftlichen Situation der Hebammen und Geburtspfleger in ihren Programmen parat. Hier dürften sich für uns Grüne aufgrund der fortgeschrittenen programmatischen Arbeit am Thema einige Lücken ergeben: Ein Erfolg wäre es beispielsweise, wenn wir die aktuelle Übergangsregelung für die Haftpflichtprämien der Hebammen überführen könnten in ein nachhaltiges Finanzierungsmodell, damit nicht länger der Bund den privaten Haftpflichtversicherern willfährig deren Wucher-Beiträge einfach aus öffentlichen Geldern bezahlt.

 

In der Summe kann man anerkennen, dass die nächsten vier Jahre Gesundheitspolitik nicht komplett unspannend werden dürften: Cannabislegalisierung, Hebammenstärkung und paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wären wichtige Etappenziele grüner Gesundheitspolitik, deswegen: Lasst uns immer wieder Druck machen, damit die nächsten vier Jahre gesundheitspolitisch nicht vergeblich werden;)