Denken wir kurz zwei Jahre zurück: Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte uns in Deutschland die angekündigte Masern-Impfpflicht. Ausführlich wurde diskutiert, unter welchen Umständen sie eingeführt werden könne, welche negativen Auswirkungen sie haben könnte – am Ende kam sie und wurde erstaunlich geräuschlos umgesetzt. Seitdem ist es Realität, dass Kinder die Kita nicht mehr besuchen dürfen, wenn sie nicht zweifach gegen Masern geimpft sind. Seitdem müssen Eltern vierstellige Geldstrafen pro Schuljahr zahlen, wenn ihr Kind nicht vollständig gegen Masern geimpft ist. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die Masern weiterhin jährlich weltweit Tausende von Todesopfern fordern, in Ländern mit schlechter ausgestatteten Gesundheitssystemen deutlich häufiger als hierzulande. Niemand wäre hier auf die Idee gekommen, das Recht von Kindern mit Impfung, die Schule ohne Strafzahlung zu besuchen, als unzulässiges „Privileg“ zu bezeichnen – nicht zuletzt, da sie ja gerade durch ihre Impfung keine Gefahr mehr für die Gesundheit Dritter bez. Masern darstellen.

Ein anderes Beispiel: Wir hatten schon vor der Covid19-Pandemie Länder, für die man ein Visum nur nach Vorlage bestimmter Impfungen bekam. Auch hier kam niemand auf die Idee, die Reise in diese Länder als Impfprivileg zu bezeichnen, sondern diese Regelungen wurden mehrheitlich als rationale Gesundheitsvorschriften angesehen.

Völlig losgelöst von allen bisherigen, häufig mit deutlich größerer argumentativer Tiefe geführten Impf-Debatten werden nun die Grundrechte von Menschen, die mit einer deutlich reduzierten Erkrankungs-Gefährdung durch Impfung rechnen können, als vermeintlich unzulässiges „Privileg“ fehldeklariert. Es ist an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt worden, warum dies ein mehr als irreführender Begriff ist und man vielmehr von einer Aufhebung von Handlungsverboten sprechen sollte.

Aber auch medizinisch sprechen mehrere Gründe dagegen, sich gegen jegliche Anpassung von Corona-Schutzmaßnahmen für Menschen mit vollständigem Impfschutz auszusprechen, wie es Angela Merkel in der vergangenen Woche getan hat. Eine simple Vermutung politischer Entscheider_innen, dies könnte potentiell beispielsweise die Masken-Akzeptanz in der Bevölkerung reduzieren – eine Behauptung, die aktuell nicht mit Daten untersetzt ist – überzeugt als Begründung nicht.

Es stimmt, dass bislang von noch keinem Covid19-Impfstoff-Hersteller ausreichende Daten dazu vorliegen, dass eine doppelte Impfung nicht nur vor der Erkrankung schützt, sondern auch eine Ansteckung Dritter verhindert. Sie werden aber vermutlich zumindest für einen Hersteller in den nächsten Wochen vorgelegt werden. Grundsätzlich kann man sagen, dass eine Impfung, die die Zahl symptomatischer Erkrankungen massiv reduziert im Mittel auch das Ansteckungsrisiko deutlich vermindern dürfte.

Welche Anpassungen der Covid19-Schutzmaßnahmen für Menschen mit Covid19-Impfschutz könnten schon heute Sinn machen?

Ein Beispiel sind die FFP-Maskenpflichten, die der Freistaat Bayern zuletzt in Geschäften, Bussen und Bahnen eingeführt hat, da diese nicht nur Dritte vor einer Ansteckung schützen, sondern vor allem auch die Trägerin selbst. FFP-Masken aber sind immer noch vergleichsweise knapp, sie sind nicht billig und sie sind auch mit einer größeren Einschränkung für den Tragenden verbunden als einfache OP-Masken oder Stoffmasken. Macht eine FFP-Maskenpflicht für Menschen Sinn, die selbst vor einer schweren Erkrankung durch eine vollständige Doppelimpfung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit geschützt sind? Oder sollten diese vergleichsweise aufwendigen und knappen Masken nicht differenzierter eingesetzt werden, wenn relevante Teile der Bevölkerung oder in bestimmten Kontexten wie beispielsweise Pflegeheimen große Teile der Bewohner_innen geimpft sind?

Relevante Fragen stellen sich auch für die Bewohner_innen von Pflegeheimen, die weiterhin von eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten ihrer Angehörigen betroffen sind. Wenn diese Bewohner_innen bereits einen vollständigen Impfschutz erhalten haben und damit mit relevanter Wahrscheinlichkeit vor einer schweren Erkrankung geschützt sind, dann müssen ihnen, gerade auch in Anbetracht ihrer Lebensqualität und der Notwendigkeit von menschlichen Kontakten auch für ihren Gesundheitszustand, Besuche wieder stärker ermöglicht werden.

Wenn sich die momentan unvollständigen Daten erhärten, dass die Impfungen auch das Übertragungsrisiko auf Dritte deutlich verringern sollte beispielsweise auch überlegt werden, ob dann Testpflichten beispielsweise für Grenzpendler_innen oder aufzunehmende Patient_innen in Kliniken aufrechterhalten werden sollten, oder ob angesichts begrenzter Test-Kapazitäten und erheblicher finanzieller Belastung diese Testpflichten für Menschen mit vollständigem Impfschutz angepasst werden sollten.

Es geht nicht darum, alle Schutz-Maßnahmen von heute auf morgen zu beenden, auch wenn dies gern von manchen behauptet wird. Es geht auch nicht darum, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft mit bspw. kompletter Reisefreiheit ausschließlich für Menschen mit Impfschutz anzustreben. Durchaus denkbar ist es jedoch, dass bei nicht vorhandenem Impfschutz engmaschige Testpflichten für Menschen ohne Impfschutz als Maßnahme zur Reduktion von Erkrankungsrisiken auf absehbare Zeit Voraussetzungen für Reisen bleiben.

Die Covid19-Pandemie bedeutet, dass wir als Gesellschaft immer wieder differenziert die Berechtigung von Maßnahmen bewerten müssen, die nach Monaten der Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote und Einkommensminderungen langsam das Limit dessen erreichen, was große Teile der Bevölkerung ohne Schaden auf Dauer überstehen können. Immer noch gilt das, was wir bereits im letzten Frühjahr gefordert haben: Dass wir gerade auch die gesundheitichen Nebenwirkungen der Maßnahmen minimieren müssen. Das ist nicht einfach, denn diese Folgen von Covid-Schutzmaßnahmen müssen angesichts wöchentlich veränderter Datenlagen immer wieder neu abgewägt werden gegenüber einer ansteigenden Zahlen psychischer Erkrankungen, Rückfällen von Suchterkrankungen und teilweise eingeschränkter Gesundheitsversorgung, um nur Beispiele zu nennen. Aber es ist eben auch und vor allem ein Abwägen von Gesundheitsgefahren mit anderen Gesundheitsgefahren – und damit unabdingbar.